Abschiebungen
Die vermeintliche Trophäe des Rechtsstaates
Abschieben oder nicht? Straftäter sowieso? Auch Pflegekräfte? Der Fall einer 36-jährigen systemrelevanten Krankenschwester, die Deutschland verlassen sollte, stellt Abschiebungen erneut infrage.
Von Elmedin Sopa Mittwoch, 13.01.2021, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 13.01.2021, 11:34 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Soll man abschieben oder nicht? Die gleichbleibende Frage, alle Jahre wieder. Zuletzt wurde die Debatte von dem Fall der 36-jährigen Pflegekraft aus Hannover angetrieben. Ihr Fall hat Aufmerksamkeit erlangt, weil sie in einen systemrelevanten Beruf ausübt. Sie ist Krankenschwester auf der Corona-Intensivstation des Klinikums der Medizinischen Hochschule in Hannover.
Nicht sie als Mensch, nicht ihre Erfahrungen, nicht ihre Wünsche und Hoffnungen auf ein besseres Leben, sondern ihre Systemrelevanz macht sie für unsere Gesellschaft plötzlich begehrt. Plötzlich. Denn seit 34 Jahren hat sie Zukunftsängste in Deutschland: unsicherer Aufenthalt, Kettenduldungen, Pflichtbesuche bei der Ausländerbehörde. Als Staatenlose ist sie kein Einzelfall. Jetzt erst will die Gesellschaft sie behalten: Weil sie plötzlich gebraucht wird, nützlich ist. Ihre sorgenvollen 34 Jahre zuvor: uninteressant.
Ich freue mich sehr für sie, dass sie eine dauerhafte Bleibeperspektive bekommt. Ich frage mich jedoch, was aus ihrer Bleibeperspektive geworden wäre, wenn es die Pandemie und die damit verbundene Relevanz ihrer Tätigkeit nicht gäbe, wenn es diese mediale Aufmerksamkeit nicht gäbe. Schwer zu sagen, viel Hoffnung hätte ich nicht, denn so geht es vielen anderen, die in Deutschland seit Jahren und Jahrzehnten in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit leben.
„“Auf der anderen Seite verweigert Deutschland nach wie vor, die eigenen Staatsbürger:innen aufzunehmen, die in Nordsyrien … Straftaten begangen haben. … Deutschland nimmt sie nicht nur nicht auf, sondern ändert gleich das Staatsangehörigkeitsgesetz, damit sie die deutsche Staatsbürgerschaft verlieren… um sich nicht aufnehmen zu müssen.““
Gleichzeitig schiebt Deutschland wieder nach Afghanistan ab. Auch Berlin beteiligte sich am letzten Sammelflug, entgegen der Zusage des Innensenators Andreas Geisel (SPD). Die aus Berlin abgeschobene Person soll mehrere Straftaten begangen haben. Abgesehen von der Pandemie, die Afghanistan besonders hart getroffen hat und dieses Land weiterhin kriegs- und krisengebeutelt ist, ist hier ein enormer Unterschied zu dem Fall aus Hannover: Die eine Person ist nützlich, die andere nicht.
Als wären Probleme aus der Welt geschafft, wenn man sie außer Landes bringt. Als hätte der Rechtsstaat seine Früchte getragen, indem er die Probleme und Herausforderungen einfach woandershin verlagert. Auf das Vorhaben von Innenminister Seehofer, nach Syrien abzuschieben, will ich gar nicht eingehen. So viel Inkompetenz ist schwer erträglich.
Auf der anderen Seite verweigert Deutschland nach wie vor, die eigenen Staatsbürger:innen aufzunehmen, die in Nordsyrien einsitzen und dort Straftaten begangen haben. Deutsche Staatsbürger:innen, die sich der Terrororganisation IS angeschlossen haben. Deutsche, die womöglich Kriegsverbrechen begangen haben. Deutschland nimmt sie nicht nur nicht auf, sondern ändert gleich das Staatsangehörigkeitsgesetz, damit sie die deutsche Staatsbürgerschaft verlieren, wenn sie sich an Kampfhandlungen einer terroristischen Vereinigung im Ausland beteiligt haben – um sie nicht aufnehmen zu müssen.
Es sei denn sie würden durch den Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft staatenlos. Dann geht das nicht. Das Grundgesetz erlaubt das nicht. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren ihrer Zeit deutlich voraus. Sie erlaubten nicht, dass Menschen – wie die Pflegekraft aus Hannover – staatenlos werden.
Der Unterschied zwischen Deutschland und Afghanistan ist, dass Deutschland ein funktionierender Rechtsstaat ist. Das „Entledigen“ von Menschen, indem sie abgeschoben werden, löst Probleme nicht. Sie macht sie nur in erster Linie für uns in Deutschland lebenden Menschen unsichtbar. Unsere Bundesrepublik ist aber gut darin, zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden, zwischen „wollen wir“ und „wollen wir nicht“ – dem zu viel untergeordnet wird. Meinung
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