Wirtschaft und Kultur
1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
Im Jahr 2021 geht es mit zahlreichen Veranstaltungen um 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Am Anfang stand ein Edikt des römischen Kaisers.
Von Nils Sandrisser Dienstag, 19.01.2021, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.01.2021, 17:32 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die Juden in Köln dürften kaum begeistert gewesen sein: Im Jahr 321 verfügte der römische Kaiser Konstantin, dass sie fortan von städtischen Verwaltungsämtern nicht mehr befreit sein sollten. Mit diesen Ämtern verbunden war die Pflicht, dem Kaiser als Gott zu opfern – für fromme Juden war das verbotener Götzendienst. Aus heutiger Sicht ist die Urkunde aus einem anderen Grund etwas Besonderes: Sie gilt als erster Nachweis für jüdisches Leben nördlich der Alpen und ist Anlass für das Themenjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.
Mit zahlreichen Veranstaltungen wird es 2021 in Nordrhein-Westfalen, aber auch bundesweit begangen. „Gerade in Zeiten eines wieder wachsenden dumpfen Antisemitismus ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass jüdisches Leben über viele Jahrhunderte hinweg die Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Deutschland bereichert haben“, betonte Matthias Löb vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe bei der Präsentation des NRW-Veranstaltungsprogramms.
Das Edikt des Kaisers spricht dafür, dass Juden vor 1.700 Jahren in Köln schon eine gewisse Bedeutung für das öffentliche Leben hatten: „Es muss Juden gegeben haben, die so angesehen und finanzkräftig waren, um diese Ämter auszufüllen“, erklärt die Frankfurter Judaistin Elisabeth Hollender. Denn für ein Amt im römischen Imperium bekam man kein Geld – im Gegenteil, so eine Tätigkeit war teuer.
Schrittmacher der Wirtschaft
Eine Blütezeit erlebte das Judentum in Deutschland im Mittelalter. Die Aschkenasim, wie die Juden in Deutschland hießen, waren in Bischofs- und Reichsstädten gerngesehene Bewohner. Die Oberhirten wie die Könige verliehen ihnen Handelsprivilegien. Wirtschaftlich und kulturell brachten Juden das mittelalterliche Europa ungemein voran. Viele von ihnen arbeiteten im 11. Jahrhundert als Fernhändler und hatten Kontakte in den Orient. Auch für die Entwicklung der Städte waren Juden Schrittmacher: Vieles von dem, was sie als Händler erwirtschafteten, machte die Städte wohlhabend.
In den Schum-Städten – so werden Speyer, Worms und Mainz nach ihren hebräischen Anfangsbuchstaben zusammengefasst – entstanden ab dem Jahr 1000 wichtige Gelehrtenschulen. Die Unesco entscheidet 2021 darüber, ob die drei Städte in die Welterbe-Liste aufgenommen werden. Die geistige Offenheit des abendländischen aschkenasischen Judentums, die nationale, religiöse und kulturelle Grenzen überschritten habe, könne heute ein Vorbild für die Gesellschaften in Europa sein, sagt der Judaist Werner Transier.
Juden zu Sündenböcken gestempelt
Beim Beginn der Kreuzzüge wurden Juden in Deutschland ab 1096 erstmals Opfer flächendeckender systematischer Gewalt. Fanatisierte Kreuzfahrer plünderten jüdische Gemeinden im Rheingebiet, ermordeten deren Mitglieder oder zwangen sie zur Taufe.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Juden in den Städten stieg in den nächsten Jahrhunderten weiter, gleichzeitig aber auch die Missgunst christlicher Nachbarn: Verleumdungen über angeblichen Hostienfrevel oder Ritualmorde machten ab dem 13. Jahrhundert die Runde, wieder gab es Pogrome. Richtig schlimm wurde die Gewalt mit dem Ausbruch der Pest ab 1347, Juden wurden zu Sündenböcken gestempelt. Rund 300 der knapp 360 jüdischen Gemeinden in Deutschland erloschen.
Reformation brachte Juden keine Erleichterung
Auch die Reformation brachte den Juden keine Erleichterung. Martin Luther (1483-1546) wetterte gegen das Judentum und warnte die Obrigkeiten, dass sie den Zorn Gottes auf sich ziehen würden, wenn sie Juden in ihren Territorien duldeten. Städte und Fürsten vertrieben während der Frühen Neuzeit die Juden zwar meist nicht, erließen aber Judenordnungen, die mit Einschränkungen verbunden waren. Die wichtigste Judenordnung war die preußische im Jahr 1750: Sie privilegierte einerseits die jüdische Oberschicht, indem sie sie unter Schutz stellte. Den Ärmsten blieb aber wenig anderes übrig als ihr Leben als Hausierer oder Bettler zu fristen.
Ein Emanzipationsschub kam Anfang des 19. Jahrhunderts von außen: Als Napoleon halb Europa eroberte, bekamen Juden volle Bürgerrechte. Aber nachdem er 1815 besiegt war, kassierten die Fürsten und Städte diese Rechte wieder zum Großteil ein. Erst mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurden Juden überall in Deutschland zu vollständig gleichberechtigten Bürgern.
Die Suche nach Schuldigen
Zugleich wuchs der Antisemitismus. Deutschlands Wirtschaft industrialisierte sich schnell, das produzierte viele Verlierer unter Bauern und Arbeitern. Auf der Suche nach Schuldigen kam man schnell auf die Juden. Der Historiker Heinrich von Treitschke brachte das antisemitische Denken 1878 auf die Formel „Die Juden sind unser Unglück“.
Die Verfolgung und systematische Ermordung von Juden durch die Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 war ein beispielloses Verbrechen in der deutschen Geschichte. Die Nationalsozialisten drängten zunächst Juden aus dem öffentlichen Leben, boykottierten ihre Geschäfte, verhängten Berufsverbote. Mit den Rassegesetzen 1935 nahmen sie ihnen bürgerliche Rechte. Ab 1941 begann der Massenmord an den europäischen Juden im industriellen Tötungssystem der Konzentrationslager, insgesamt rund sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden getötet.
Zahl antisemitischer Gewalttaten verdoppelt
Nach dem Krieg lebten nur noch etwa 23.000 Juden in Deutschland, die meisten im Westen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wanderten dann viele Juden aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland ein. Heute leben wieder rund 95.000 Juden in Deutschland. Die Judenfeindlichkeit nimmt laut einem Lagebild des Verfassungsschutzes vom August zu und ist besonders unter Rechtsextremisten vertreten. Die Zahl der antisemitischen Gewalttaten hat sich zwischen 2017 und 2019 nahezu verdoppelt.
„Jüdische Menschen waren Teil dieses Landes, und sie sind es heute wieder“, sagt Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. „Damit das so bleibt, bleibt noch viel zu tun. Aber: 1.700 Jahre gemeinsame Tradition darf man feiern – ebenso wie die gemeinsame Gegenwart und Zukunft.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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