Pauschal gegen Migranten
Niederländische Regierung stürzt über Kampf gegen Sozialbetrug
Nachdem ausländische Banden das niederländische Sozialsystem missbrauchten, verschärfte die Regierung die Kontrollen. Bei der anschließenden Jagd auf vermeintlichen Sozialbetrug gerieten pauschal Migranten ins Visier - zu Unrecht. Nun ist die Regierung darüber gestürzt.
Von Benjamin Dürr Freitag, 22.01.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 21.01.2021, 16:14 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
2013 sorgten Fernsehaufnahmen aus Bulgarien für Aufregung in Den Haag: Bewohner eines ärmlichen Dorfs in Ostbulgarien erklärten Investigativjournalisten in die Kamera, der niederländische Staat habe ihnen Tausende Euro überwiesen, ohne dass sie viel dafür tun mussten. Ein Mann deutete auf ein Gebäude und erklärte zufrieden, er habe von dem Geld ein Haus gekauft.
Die Journalisten hatten aufgedeckt, dass Ausländer Mietzuschüsse und Kindergeld beantragen konnten, obwohl sie gar nicht in den Niederlanden wohnten. In Bulgarien gab es offenbar Banden, die Reisen in die Niederlande organisierten und gefälschte Mietverträge bereitstellten. Die Steuerbehörde, die für die Überweisung von Zuschüssen verantwortlich ist, prüfte erst hinterher die Rechtmäßigkeit der Anträge. Die Antragsteller waren zu diesem Zeitpunkt schon wieder zu Hause.
Diese Vorgänge, die nur noch als „Bulgarenbetrug“ bezeichnet wurden, wirken nach. Am 15. Januar trat die Regierung von Ministerpräsident Mark Rutte zurück. Der finanzielle Schaden liegt wohl nur bei rund vier Millionen Euro, was etwa 0,006 Prozent aller Zuschüsse entspricht, die jährlich gezahlt werden. Doch die Folgen für das Sozialsystem, das Vertrauen in die Behörden und den Rechtsstaat sind gravierend: Nachdem der Missbrauch öffentlich geworden war, hatte eine Jagd auf vermeintlichen Sozialbetrug begonnen, der laut einer parlamentarischen Befragung die Grundprinzipien des Rechtsstaats berührt.
Pauschalverdacht gegen Migranten
Durch die strenge und oft überzogene Anwendung der Gesetze wurde seit 2014 von Familien, bei denen die Steuerbehörde Missbrauch vermutete, das Kindergeld systematisch gestrichen und zurückgefordert. In vielen Fällen seien Familien als Betrüger behandelt worden, obwohl sie nur einen kleinen Fehler bei der Antragstellung gemacht hatten, erklärte der Vorsitzende der Befragungskommission, Chris van Dam, bei der Vorstellung des Abschlussberichts im Dezember.
Antragsteller mit bestimmten Merkmalen wurden automatisch als potenzielle Betrüger angesehen. Betroffen waren insbesondere Menschen mit einer doppelten Staatsbürgerschaft.
Rund 22.000 Geschädigte
Manche Familien konnten durch die plötzliche Streichung des Kindergeldes Kitagebühren nicht mehr bezahlen, machten Schulden und wurden in extremen Fällen sogar wegen Rückständen bei der Miete auf die Straße gesetzt. Ihr Leben habe sich in eine Hölle verwandelt, sagte die 38-jährige Mutter Fatma Şimşek der Zeitung NRC. Sie musste rund 54.000 Euro zurückzahlen und ist eine von rund 22.000 Geschädigten.
Der Abschlussbericht mit dem Titel „Nie gekanntes Unrecht“ übt nicht nur schwere Kritik an der Steuerbehörde, sondern auch an Ministern, die Warnungen vor Diskriminierung und den Folgen des harten Vorgehens ignorierten, außerdem am Parlament, das entsprechende Gesetze gegen Sozialbetrug erließ. „Die Politik muss sich anrechnen lassen, dass die überhitzte Diskussion über die Bekämpfung von Missbrauch und Betrug zu einer Kultur geführt hat, in der die menschlichen Aspekte zu wenig Aufmerksamkeit bekamen“, sagte van Dam.
„Ruttes Fingerabdrücke überall“
Ministerpräsident Rutte bezeichnete die Ergebnisse der Kommission als knallhart, aber fair. Weil das ganze System gescheitert sei, bleibe dem Kabinett nichts anderes übrig, als gemeinsam zurückzutreten. Rutte versprach, die Geschädigten schnell zu entschädigen – jeder bekommt 30.000 Euro -, und er versprach ein vollständig neues Zuschusssystem.
Der Rücktritt kam erst mehrere Wochen nach der Veröffentlichung des Parlamentsberichts und ist vor allem symbolisch, weil am 17. März sowieso Neuwahlen stattgefunden hätten. Rutte, der seit mehr als zehn Jahren an der Macht ist, tritt trotz der Affäre und des Rücktritts der Regierung wieder für die Liberalkonservative Partei VVD an. Die gnadenlose Jagd auf Betrüger wird auch ihm angelastet. „Ruttes Fingerabdrücke sind überall“, sagt die sozialdemokratische Spitzenkandidatin Lilianne Ploumen. (epd/mig) Ausland Leitartikel
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