Hanau
Hanau ringt ein Jahr nach dem Anschlag mit der Erinnerung
Ein Jahr nach dem Anschlag gegen Bürger aus Einwandererfamilien ist das Entsetzen in Hanau immer noch spürbar. Fragen zur Aufklärung des Verbrechens quälen die Hinterbliebenen bis heute.
Von Jens Bayer-Gimm Freitag, 19.02.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 17.02.2021, 16:22 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
„Der Schock sitzt weiterhin tief“, sagt Selma Yılmaz-Ilkhan, Vorsitzende des Ausländerbeirats Hanau. In der Stadt herrsche immer noch Trauer über das Massaker vor einem Jahr. Menschen legen weiterhin frische Blumen vor Bildern der Ermordeten am Brüder-Grimm-Denkmal auf dem Marktplatz ab. Am Abend des 19. Februars 2020 erschoss der Hanauer Tobias R. neun Bürger aus Einwandererfamilien, seine Mutter und sich selbst, weitere Opfer überlebten verletzt. Ein Gutachten diagnostizierte bei dem Täter paranoide Schizophrenie, auf die eine Ideologie mit rassistischen Elementen aufgesetzt gewesen sei. Einen Prozess gibt es nicht, da der Täter tot ist.
Die Hinterbliebenen forderten vor allem Aufklärung über das Verbrechen, sagt der systemische Berater und Mediator Robert Erkan, der unmittelbar nach der Tat von der Stadt vorübergehend zum Opferbeauftragten ernannt worden war. Transparenz der Ermittlungsbehörden wäre „ganz wichtig für die Bewältigung der Trauer“, aber „die findet bis heute nicht statt“. Der Generalbundesanwalt verweist darauf, dass das Ermittlungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei. Nach Informationen des „Evangelischen Pressedienstes“ hat die Behörde im Dezember ein Zwischenergebnis den Anwälten der Hinterbliebenen zur Einsicht und Stellungnahme übergeben. Es habe sich kein Hinweis auf weitere Mitwisser oder Helfer ergeben, gegen die ermittelt werden müsste.
Zweifel am Polizeieinsatz
Jedoch quälten Zweifel am Polizeieinsatz die Hinterbliebenen mit der Frage, ob ihre Angehörigen vielleicht hätten gerettet werden können, berichtet Yılmaz-Ilkhan. Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) räumte ein, dass die Polizeistation am Tatabend aus technischen Gründen tatsächlich nur eine begrenzte Anzahl von Notrufen entgegennehmen konnte. Doch unabhängig davon seien Polizisten nach Eingang der ersten Notrufe innerhalb von wenigen Minuten an den beiden Tatorten gewesen. Die Staatsanwaltschaft Hanau prüft den Vorgang seit dem 28. Januar.
Weitere drängende Fragen betreffen die Waffenerlaubnis für den Schützen, der zuvor Verschwörungs- und Mordfantasien im Internet veröffentlicht hatte, und den verschlossenen Notausgang am ersten Tatort, zu dem die Staatsanwaltschaft Hanau seit November ermittelt. Die Behörden seien den Pannen erst auf Journalistenrecherchen und Anzeigen der Hinterbliebenen hin nachgegangen, kritisiert Hagen Kopp, Gründungsmitglied der „Initiative 19. Februar Hanau“. Die Angehörigen der Opfer erwarteten Konsequenzen.
„Die vergessen uns“
Für die Hinterbliebenen sind die Folgen des Anschlags auch in materieller Hinsicht einschneidend. „Sie sind nicht mehr in der Lage zu arbeiten“, berichtet Yılmaz-Ilkhan. Die Familien lebten nun von Opferhilfe- und Sozialleistungen. Das Bundesamt für Justiz hat bisher 1,2 Millionen Euro an Opferhilfe für 60 Antragsteller gezahlt. Doch das Geld hilft nur für eine bestimmte Frist.
Unmittelbar nach der Tat fanden sich Tausende zu Gedenkkundgebungen in der Stadt zusammen, am 4. März kamen der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin zu einer Trauerfeier. Doch kurz darauf wurde der Corona-Lockdown verhängt. Therapeuten stellten Behandlungen ein, die Stadt untersagte Versammlungen. Traumatisierte hätten den Eindruck gewonnen: „Die vergessen uns“, sagt der Stadtverordnete Erkan. „Wir sind noch in einem eingefrorenen Zustand.“
Bohren in Behördenversagen hilft nicht
Trotzdem gründeten Hanauer als Reaktion auf das Massaker Initiativen. Das „Institut für Toleranz und Zivilcourage“ und die „Initiative 19. Februar Hanau“ betreuten Hinterbliebene und organisierten monatliche Gedenktreffen. Die Initiative eröffnete einen Treffpunkt für Trauernde und Unterstützer in der Innenstadt und organisierte eine Demonstration.
Das Institut indes versuche, die Stadtgesellschaft zusammenzuhalten und Spaltungen zu verhindern, erklärt die Mitgründerin Yılmaz-Ilkhan. Es hat Empowerment-Seminare für Betroffene und Jugendliche online veranstaltet sowie Lesungen Prominenter. Traumatisierte Menschen bräuchten Ruhe. Das Bohren in Behördenversagen helfe ihnen nicht weiter. Auch könne man nicht behaupten, die Gesellschaft sei an dem Anschlag schuld. Die Bürger hätten sich von Anfang an solidarisch gezeigt.
Gedenkveranstaltung im kleinen Rahmen
Die Stadt hat Gedenktafeln an den Tatorten angebracht. Ein Wettbewerb für die Gestaltung eines Denkmals hat Ende Dezember 118 Einsendungen ergeben. Die Stadt gründet ein „Zentrum für Demokratie und Vielfalt“, finanziert auch mit Bundes- und Landesmitteln.
Zum Jahrestag am 19. Februar sieht die Stadt aufgrund der Corona-Pandemie nur eine Gedenkveranstaltung im kleinen Rahmen vor. Erwartet werden im Congress-Park unter anderen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) und der Fußballweltmeister und Ehrenbürger Rudi Völler. Für die Zukunft hält Mediator Erkan fest: „Alle, die in Hanau wohnen, leben oder arbeiten, wir können den Anschlag nicht vergessen.“ (epd/mig) Leitartikel Panorama
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