Rezension
Die blaue Mauer
Ein Roman über Migration und Exil – eindringlich, bewegend und höchst aktuell. Er beschreibt die Ursachen von Migration, den Weg nach Europa und die Zeit danach - eine Anklageschrift gegen die europäische Flüchtlingspolitik.
Von Wolfgang Schlott Freitag, 07.05.2021, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 06.05.2021, 11:17 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der tunesische Fischtrawler, mit mehr als 700 Flüchtlingen aus verschiedenen vorderasiatischen und afrikanischen Ländern beladen, war am 17. Juli 2014 auf dem Weg von Libyen nach Italien, als das Massaker begann. Dutzende Boatpeople, die im Unterdeck des völlig überladenen Schiffs eingeschlossen waren, und sich voller Verzweiflung zum Oberdeck freikämpfen wollten, wurden von der Bootsbesatzung mit Macheten abgeschlachtet. Dieser dokumentarisch verbürgte Vorfall wie auch die Rettung der am Leben gebliebenen, traumatisierten Flüchtlinge bildeten den Anlass für die Entstehung dieses Romans. Sein Autor, Louis-Philipp Alembert, 1962 in Port-au-Prince auf Haiti geboren, ist Journalist und Absolvent der Sorbonne, Verfasser zahlreicher Gedichtbände und Romane, ausgezeichnet mit renommierten Literaturpreisen, nominiert für den Prix Goncourt 2019. Für seinen Plot wählte er drei Protagonistinnen aus: Dima aus Aleppo, Chochana aus Nigerien und Semhar aus Eritrea.
In dem meisterhaft konstruierten Plot treffen diese drei Frauen, unter ihnen Dima mit ihrem Ehemann und zwei Töchtern, erst während der schrecklichen Überfahrt nach Lampedusa aufeinander. Vorher schildert der Erzähler ausführlich, unter welchen Bedingungen Dima, Chochana und Semhar den Hafen in Libyen erreichen. Während Dimas Familie, aufgrund ihrer hohen Kopfgeldzahlungen an die Schleuser vor ihrer Abreise im Hotel übernachtet, verbringen Chochana und Semhar unter sklavischen Bedingungen in einem Schuppen, Leib an Leib mit vielen anderen Flüchtlingen gepresst. Sie haben für ihre lange Reise durch Nordafrika soviel Kopfgeld ausgegeben, weshalb sie gezwungen sind, für ihr Bootsticket zur Insel Lampedusa noch einmal Geld zu verdienen.
Die folgenden sechs Kapiteln werden, unterteilt nach Flüchtlingsrouten und den Berichten über die schrecklichen Erlebnisse auf dem Kutter, die Schicksalswege der drei Frauen geschildert. Auf diese Weise erfahren die LeserInnen die Bedingungen und Voraussetzungen, unter denen die Flüchtlinge ihre Flucht aus ihren Heimatländern angetreten haben. Dima aus dem unter Bombenangriffen und Hungersnot leidenden Aleppo; die einer jüdischen Minderheit in Nigeria angehörigen Chochana, die den unerträglichen Lebensbedingungen in ihrem Dorf entgehen will und schließlich Semhar, die die Militärdiktatur in Eritrea nicht mehr ertragen kann. Sie macht sich nach Zahlung eines Kopfgeldes mithilfe von Freunden auf die Reise nach Europa auf, durch den Sudan, durch die Sahara, auf dem Holzplanken eines wild dahinratternden Pick-up.
Louis-Philippe Dalembert. Die blaue Mauer. Roman. Aus dem Französischen von Christine Ammann. München (Nagel & Kimche) 2021. 319 S., 24.-€. ISBN 978-3-312-01208-4
Es sind grausame Bedingungen, unter denen alle drei Frauen, so wie ihre Familienangehörigen und die anderen Flüchtlinge, auf dem Weg zur „blauen Mauer“ leiden. Doch noch weitaus schlimmer sind die Umstände, denen die Boat people auf dem überfüllten Fischtrawler ausgesetzt sind. Über sie berichtet der Erzähler, wobei er seine Figuren nur dann und wann direkt zu Wort kommen lässt, so als ob er die Ungeheuerlichkeit bestimmter Abläufe nicht aus „seiner Hand gaben will“. Auf diese Weise vollziehen LeserInnen die handgreiflichen brutalen Auseinandersetzungen zwischen den Flüchtlingen aus dem Unterdeck und der Bootsbesatzung gleichsam kontrolliert. Erst die Aufschreie der von Machetenhieben getroffenen Flüchtlinge, die spontanen Ausrufe bis hin zu den Ansätzen von inneren Monologen verstärken den Eindruck von den schrecklichen Auseinandersetzungen zwischen denen, die mit ihrer Menschenfracht riesige Profite einstreichen, und denen, die auf der Flucht in das „Paradies“ Europa sind. Infolge der blutigen Auseinandersetzungen auf dem Kutter gerät dessen Gleichgewicht langsam aus dem Lot. Während die zahlreichen dahingeschlachteten Leiber der Unterdeck-Passagiere über Bord geworfen werden, signalisiert der Kapitän SOS, weil ein Leck das Schiff aus dem Ruder zu bringen droht. Der dänische Tanker Torm Lotte eilt dem Fischtrawler zu Hilfe und eine dramatische Rettungsaktion setzt ein, mit weiteren Todesfällen, weil viele der Flüchtlinge so schnell wie möglich auf den Tanker gelangen wollen, ins Wasser springen, obwohl sie meist nicht schwimmen können.
Der abschließende Handlungsstrang des Romans bezieht sich auf die Aktionen der italienischen Küstenpolizei, die Versorgung der Flüchtlinge, unter denen neben den drei Frauen im Umfeld ihrer aus Syrien, Eritrea, Senegal oder Nigeria stammenden Leidensgefährten sind. Sie finden ihren amtlichen Niederschlag in Berichten der Präfektur in Messina, wo der Tanker die Flüchtlinge von Bord bringen ließ. Darüber hinaus erhält der Leser Auskunft über das weitere Schicksal der Protagonistinnen, unter denen Dima und Semhar tatsächlich den Status von Kriegsflüchtlingen erhalten, während Chochana im bürokratischen Antragsgeflecht eines Asylflüchtlings hängen bleibt. Doch „Chochana verlor nicht die Hoffnung“ tröstet in diesem Fall der Autor seine LeserInnen, die die Fluchtwege und schrecklichen Erlebnisse ihrer Heldinnen mit starkem Mitgefühl verfolgt haben.
Der vorliegende Roman über Migration und Suche nach einer neuen Heimat trägt die Merkmale einer Anklageschrift gegen die Flüchtlingspolitik der EU, deren Verwaltungsapparat auf den anhaltenden Menschenstrom aus afrikanischen und vorderasiatischen Staaten abwartend mit bürokratischen Mitteln und verzögerten Hilfsprogrammen reagiert hat. Diesen immer wieder kritisierten Zustand beleuchtet Louis-Philippe Dalembert auf der Grundlage einer realiter stattgefundenen Katastrophe vor der italienischen Küste, indem er mit unterschiedlichen erzählerischen Verfahren drei Einzelschicksale im Kontext von Flucht und Rettung in allerhöchster Not schildert. Doch der Leser erfährt nicht nur etwas über den Ausgang der Katastrophe, er wird auch eingeweiht in die Ausgangsbedingungen und die schrecklichen Umstände, unter denen die Flucht nach Europa abläuft. Ein Roman, der die Ursachen von Migration ebenso genauso benennt, wie er einfühlsam die Verzweiflung seiner Protagonistinnen in ihrem Überlebenskampf auf ihrem Leidensweg in einen anderen Lebensraum beschreibt, ein Roman, der in der Übersetzung von Christine Ammann einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen wird. Aktuell Rezension
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