Was nun?
Lina studiert Jura und trägt ein Kopftuch
Meine Nichte Lina studiert Jura und sie ist sehr besorgt über ein Gesetz, das ihr unmöglich machen könnte, ihren Wunschberuf auszuüben. Ich konnte Lina nicht trösten.
Von Junus el-Naggar Freitag, 14.05.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 16.05.2021, 15:38 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Heute Morgen bekam ich einen Anruf meiner Nichte Lina. Lina studiert im dritten Semester Jura und erzählte mir besorgt, wie der Bundestag vor einigen Wochen ein Gesetz annahm, das das Erscheinungsbild von Beamt:innen und Verwaltung etwa im Gerichtssaal reguliert. Beinahe unbemerkt passierte dieses Gesetz vergangene Woche auch den Bundesrat. Lina war am Telefon völlig aufgelöst. Das Gesetz betreffe Bärte, Tattoos oder Piercings, was sich auf sie nicht auswirkt. Sie trägt kein Piercing und Tattoos fand sie schon immer irgendwie unästhetisch. Aber ein Kopftuch trägt sie. Und auch religiöse Symbole, also etwa das Tragen einer Kippa, eines Kreuzes oder eben eines Kopftuchs werden vom Gesetz erfasst.
Lina fragte mich, was es denn heiße, wenn religiöse Merkmale dann verboten werden könnten, wenn sie „objektiv geeignet“ sind, „das Vertrauen in die neutrale Amtsführung der Beamtin“ zu beeinträchtigen. Ich wusste gar nicht recht, was ich sagen sollte, zumal die Debatte um dieses Gesetz so leise verlief, dass ich sie nur am Rande mitbekommen hatte. Ich fand dann heraus, dass diese vage Formulierung den einzelnen Behörden die Möglichkeit gibt, zu entscheiden, was für sie „objektiv geeignet“ ist und dass sie entsprechend eigene Verordnungen erlassen können. Verwaltungen werden also nicht gezwungen, das Kopftuch in der Praxis tatsächlich zu verbieten.
Aber die Botschaft und die Signalwirkung gerade an Menschen wie Lina sind fatal und auch ihre rechtliche Unsicherheit wächst. Kritik an diesem Gesetz zielt weder auf den Schutz von Frauen wie Lina ab noch auf den der Minderheit der Muslim:innen als solche, sondern schlicht auf Freiheit. Mir fallen neben Lina direkt noch einige weitere Kopftuchtragende in Studium, Ausbildung oder Promotion ein, die aktuell unruhig auf ihren Schreibtischstühlen hin- und herrücken. Dabei ist das Problem ja nicht neu.
2016 wurden im Rahmen einer Studie Bewerbungen an deutsche Unternehmen verschickt – einmal unter dem Namen Sandra Bauer ohne Kopftuch, einmal unter dem Namen Meryem Öztürk ohne Kopftuch und einmal unter dem Namen Meryem Öztürk mit Kopftuch. Die Studie zeigte deutlich, wie ein vermeintlich nicht-deutscher Name und zusätzlich dazu ein Kopftuch Karrierechancen muslimischer Frauen strukturell erschweren.
„Nach einer im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz durchgeführten aktuellen Studie entscheidet sich über ein Drittel der muslimischen Nichtkopftuchträgerinnen aus der Sorge vor Nachteilen in Schule, Ausbildung und Arbeit gegen ein Kopftuch. Das hört sich irgendwie nicht nach Religionsfreiheit an.“
Ich habe Lina von dieser Studie nie erzählt, um sie nicht zu entmutigen. Ob sie die Studie kennt, weiß ich nicht – aber die Realität, die sie zeigt, wird Lina früher oder später kennenlernen. Viele deutsche Musliminnen schrecken ohnehin aus genau diesem Grund vor dem Tragen eines Kopftuches zurück. Nach einer im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz durchgeführten aktuellen Studie entscheidet sich über ein Drittel der muslimischen Nichtkopftuchträgerinnen aus der Sorge vor Nachteilen in Schule, Ausbildung und Arbeit gegen ein Kopftuch. Das hört sich irgendwie nicht nach Religionsfreiheit an.
Ich habe versucht, Lina zumindest emotional zu beruhigen und habe sie sich ausheulen lassen. Fachlich ermutigen konnte ich sie aber nicht, weil ich zwei Dinge ohnehin selbst nicht ganz verstanden habe. Erstens: Was ist eigentlich an diesem blöden Stück Stoff so dermaßen relevant? Schon im 17. Jahrhundert war das Kopftuch in Europa Thema, galt damals interessanterweise aber noch als Zeichen der Sitte, der Züchtigkeit und des Anstands. In der Aufklärung verstand man die Muslimin dann als Unfreie, als Sklavin und Untertanin des muslimischen Mannes. Heute schwanken die Wahrnehmungen von Lina zwischen bemitleidenswert, gefährlich, rückständig, ge- und befangen. In Frankreich diskutiert man seit 1989 über das Kopftuch, in Deutschland immer wieder seit 1998. Ich habe Lina versucht zu trösten, indem ich darauf hinwies, dass der Fokus auf das als rückständig gerahmte Kopftuch den Diskutierenden dabei zu helfen scheint, sich selbst und die eigene Gesellschaft als fortschrittlich begreifen zu können. Wieso sonst sollte dieses Kleidungsstück, das seit so vielen Jahren Teil deutscher Lebensrealität ist, immer wieder in den Diskurs eingebracht und kontrovers diskutiert werden?
Was ich zweitens nicht verstanden habe: Was soll diese so viel beschworene Neutralität sein, auf die man sich im Kontext des Kopftuchs so gerne beruft? Auch ich werde immer wieder gefragt, ob ich als Muslim denn nicht viel zu befangen sei, um mich wissenschaftlich mit Islamthemen auseinanderzusetzen. Ich entgegne dann, dass wir alle unsere Position im Diskurs haben. Wir sind alle auf bestimmte Weise sozialisiert, in Debatten verstrickt und auch befangen. Wir alle verfügen über unterschiedliches Wissen, denken und kleiden uns unterschiedlich. Der völlig objektive Autor ist für mich ebenso utopisch wie eine völlig neutrale Richterin. Kleidung und Erscheinung, meinte Lina, sind doch nur der Versuch, völlige Objektivität vorzutäuschen.
„Ich habe ihr erzählt, dass ich das auch aus meinem wissenschaftlichen Kontext kenne, wo eine christlich-weiße Person als grundlegend geeigneter, als Norm und wissenschaftlich neutraler verstanden wird. Alle anderen sind irgendwie anders und sicherlich befangen.“
Ich habe ihr erzählt, dass ich das auch aus meinem wissenschaftlichen Kontext kenne, wo eine christlich-weiße Person als grundlegend geeigneter, als Norm und wissenschaftlich neutraler verstanden wird. Alle anderen sind irgendwie anders und sicherlich befangen. Wieso müssen Erscheinung und Kleidung über Intellekt und Kompetenz stehen?
Die medialen Reaktionen auf das Gesetz blieben fast vollständig aus und ich glaube, auch das hängt mit verbreiteten Normen zusammen. Ein großer Aufschrei schien schlicht nicht nötig, weil dieses Gesetz potenziell ja nur etwas etwa aus Gerichtssälen und Behörden verbannt, das ohnehin anders, nicht deutsch und irgendwie fremd ist. Der Gedanke der (deutschen) Nation basiert schon seit dem 19. Jahrhundert auf dem Wunsch nach gemeinschaftlicher Harmonie und Homogenität. Differenz, Vielfalt und Heterogenität sind seitdem ein Problem. Wenngleich diese gesellschaftliche Heterogenität faktisch ja schon lange gegeben ist, soll sie zumindest unsichtbar bleiben und aus Amtsstuben verbannt werden.
Ich konnte Lina letztlich nicht wirklich trösten, so sehr ich es auch wollte. Dieses Gesetz wird ambitionierten deutschen Musliminnen wie ihr nicht gerecht. Ich wünsche ihr und uns, dass solche Diskussionen bald nicht mehr geführt werden müssen. Meinung
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