Interview
Meier-Braun: „Die Zahl der Umweltflüchtlinge wird ansteigen“
Die Zahl der Klimaflüchtlinge steigt dramatisch. Die Weltgemeinschaft eilt von einem Gipfel zum nächsten. Prof. Karl-Heinz Meier-Braun bemängelt im Gespräch mit MiGAZIN halbherzige Absichtserklärungen - hat die Hoffnung aber nicht aufgegeben.
Donnerstag, 20.05.2021, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 19.05.2021, 15:04 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
MiGAZIN: Sie haben inmitten der Pandemie fünf Thesen zu Klimaflucht formuliert. Warum?
Karl-Heinz Meier-Braun: Weil das Thema in der Pandemie unterzugehen droht, habe ich das Thema in den Fokus gestellt. Denn so viel ist sicher: die Pandemie vergeht, die Klimakrise und die unter anderem dadurch verursachte Migration wird bleiben.
Corona hat die Situation potenzieller Flüchtlinge zusätzlich verschärft. Ist mit einem Anstieg der Flüchtlingszahlen zu rechnen?
Karl-Heinz Meier-Braun: Die Zahl der Umweltflüchtlinge wird ansteigen. Sie werden aber wie schon jetzt als Binnenflüchtlinge vor allem im eigenen Land oder in Nachbarländern bleiben. Nicht Millionen von ihnen werden sich auf den Marsch nach Europa machen. Horrorzahlen von bis 1 Milliarde Umweltflüchtlingen sind unrealistisch, schüren Ängste und verhindern eine sachliche Auseinandersetzung mit einer der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Menschen, die aufgrund klimatischer Veränderungen, der Umwelt wegen oder aufgrund von Naturkatastrophen fliehen, haben kaum Chancen auf Asyl. Sie sehen da eine Schutzlücke?
Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun (www.meier-braun.de) ist baden-württembergischer Landesvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (DGVN) und Mitglied im Bundesvorstand dieser Organisation. Er ist Migrationsexperte, Honorarprofessor an der Universität Tübingen und Autor zahlreicher Publikationen zum Thema Migration und Integration. Lange Jahre war er Redaktionsleiter und Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks (SWR).
Karl-Heinz Meier-Braun: Menschen, die vor der Klimaveränderung und Umweltkatastrophen, ihre Heimat verlassen müssen, fallen nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und damit nicht unter den Schutz des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). So lange sie im eigenen Land als Binnenvertriebene bleiben, unterstützt sie ihr Heimatland und die dort geltenden Gesetze. Wenn sie aber die Staatsgrenzen überschreiten, klafft eine Schutzlücke. Die GFK erkennt Umweltfaktoren nicht als ein Kriterium zur Definition eines Flüchtlings an. Es besteht eine Schutzlücke, nicht nur im juristischen Sinne, die dringend geschlossen werden sollte.
Sie fordern verstärkte Maßnahmen gegen den Klimawandel. Welche sind das konkret? (bezogen auf Deutschland, anschließend bitte auch global)
Karl-Heinz Meier-Braun: Es geht nach wie vor darum, Fluchtursachen wie eine Klimakatastrophe zu beseitigen. Wir brauchen eine radikale Energiewende in Deutschland, die Reduzierung der Emissionen und Gelder für die betroffenen ärmsten Länder, die sich nicht wie wir, beispielsweise durch den Bau von Dämmen und Deichen, auf die Auswirkungen des Klimawandels einstellen können. Eine solche neue Klimapolitik ist der wichtigste Ansatz, um Klimaflucht zu verhindern. Wer Umweltflucht bekämpfen will, der muss sich dafür einsetzen und diese auch im Alltag mittragen. Dabei kann Deutschland eine Vorreiterrolle übernehmen. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Menschheit auf eine globale Krise reagieren und kurzfristig rasch Maßnahmen ergreifen und umsetzen kann, die viele Milliarden Euro kosten. Der Klimawandel und die dadurch verursachte Flucht ist eine noch größere langfristige Herausforderung, die ähnliche Anstrengungen der internationalen Völkergemeinschaft erfordern.
In den vergangenen Jahren standen mehrere internationale Gipfel in Sachen Umweltmigration an. Wie bewerten Sie die Ergebnisse?
Karl-Heinz Meier-Braun: Im internationalen Migrationspakt (GCM) von 2018 sind die beiden Bereiche Klimawandel und Migration zwar zum ersten Mal miteinander verknüpft worden, es blieb aber bei Absichtserklärungen was die Umsetzung angeht. Trotzdem sind diese internationalen Konferenzen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen sehr wichtig. Bekämpfung von Hunger und Armut auf der Welt ist eines der wichtigsten Ziele, auf die sich die internationale Staatsgemeinschaft beispielsweise bei den 17 Zielen im Jahre 2015 geeinigt hat und mit denen sich Fluchtursachen beseitigen lassen.
Auf dem UN-Nachhaltigkeitsgipfel im September 2019 wurden zwar Fortschritte bei der Umsetzung bis 2030 festgestellt. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) kritisierte aber, dass wir ‚weit hinter dem vorgegebenen Zeitrahmen interherhinken.‘ Weltweit stünden die notwendigen Investitionen nicht zur Verfügung, während gleichzeitig die Rüstungsausgaben stiegen. Müller wörtlich: ‚Das ist ein besorgniserregender Trend, den wir umkehren müssen.‘
Die Weltklimakonferenz im Dezember 2019 in Madrid endete mit Frustrationen. Der dürftige Minimalkompromiss fordert die Länder zu verstärkten Anstrengungen im Kampf gegen die Erderwärmung auf. Wichtige Entscheidungen wie die Hilfe für arme Länder wurden verschoben. Umweltmigration spielte praktisch keine Rolle, obwohl Migrationsexperten im Vorfeld darauf hingewiesen hatten, dass Umweltkatastrophen inzwischen zu den wichtigsten Fluchtgründen zählen. UN-Generalsekretär Guterres erklärte auf Twitter, er sei enttäuscht von den Ergebnissen. Die internationale Gemeinschaft habe eine wichtige Gelegenheit verpasst, mehr Ehrgeiz bei der Bewältigung der Klimakrise zu zeigen.
Im Dezember 2020 forderte der UN-Chef alle Staaten dazu auf, den „Klimanotstand“ auszurufen und warnte vor einem ‚katastrophalen Temperaturanstieg‘ noch in diesem Jahrzehnt. Ein EU-Gipfel einigte sich schließlich auf verschärfte Klimaziele für 2030. Um mindestens 55 Prozent soll demnach der Ausstoß von Treibhausgasen unter den Wert von 1990 sinken.
Bei einem weiteren Klimatreffen schlossen sich im Januar 2021 50 Staaten zu einer Allianz zusammen und versprachen mehr für den Umweltschutz zu tun. So soll die internationale Gemeinschaft mit rund zwölf Milliarden Euro ein ins Stocken geratenes Umweltprojekt in der Sahelzone unterstützen. Es bleibt abzuwarten, ob diese (erneuten) Ankündigungen wirklich zu einer Veränderung der Klimapolitik und der Lösung der damit zusammenhängenden Problemen führen wird. Große Hoffnungen richten sich in diesem Jahr auf die UN-Klimakonferenz im November in Glasgow.
Zum Abschluss: Was empfinden Sie, wenn Sie Nachrichten über tote Flüchtlinge im Mittelmeer oder Bilder von Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln sehen?
Karl-Heinz Meier-Braun: Obwohl ich mich schon sehr lange mit dem Thema beschäftige und fast tagtäglich diese entsetzlichen Bilder auf den Schirm bekomme, bringt es mich jedes Mal fast zur Verzweiflung, angesichts der Tatsache, dass die Flüchtlingskatastrophe kein Ende nimmt und Europa mehr oder weniger tatenlos zuschaut bzw. sich immer weiter abgeschottet. Aktuell Interview Panorama
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