Utopie?
Keine Angst vor offenen Grenzen
Große Teile der Menschheit sitzen auch ohne Pandemie in einer Art permanentem Lockdown fest. Die Reisefreiheit ist das Privileg einer Minderheit. Offene Grenzen sollten aber ein grundlegendes Freiheitsrecht sein – für alle.
Von Volker M. Heins Freitag, 04.06.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 03.06.2021, 14:43 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Am Anfang der modernen Migrationskontrolle stand die Seuchenbekämpfung. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts führten Australien und Neuseeland Quarantänegesetze ein, um zu verhindern, dass Cholera eingeschleppt wird. Die Gesetze wurden aber auch genutzt, um die Einwanderung von Chinesen und anderen Asiatinnen drastisch zu reduzieren.
Bei der Corona-Pandemie ist die Lage eine ganz andere. Vor einem Jahr waren wir es, die lernen mussten, was es heißt, nicht mehr nach Belieben reisen zu können. Plötzlich durften auch die Deutschen mit ihren roten Reisepässen, die ihnen bis dahin den Zugang zur ganzen Welt öffneten, nicht einmal mehr nach Österreich, Holland oder Mallorca fahren. Später sperrten auch noch die norddeutschen Bundesländer ihre Inseln in der Nord- und Ostsee für Menschen aus Düsseldorf oder Berlin. Eine Zeitlang und ganz plötzlich war die Welt sehr klein geworden.
„Freiheit war nicht nur Gedankenfreiheit, sondern auch die Freiheit unserer Körper, sich legal über alle Grenzen hinweg bewegen zu dürfen.“
Dabei hatten viele von uns so lange in dem Gefühl gelebt, im Prinzip überall auf der Welt arbeiten und Beziehungen pflegen zu können, oder wie selbstverständlich darüber nachgedacht, ob wir in den Ferien in der Südsee mit Haien tauchen oder doch lieber in den Bergen Kirgisiens wandern möchten. Freiheit war nicht nur Gedankenfreiheit, sondern auch die Freiheit unserer Körper, sich legal über alle Grenzen hinweg bewegen zu dürfen.
Die Grenzschließungen, Lockdowns und Quarantäneauflagen änderten das. Amerikaner, die von Colorado aus in einem Privatjet nach Italien flogen, wurden gleich nach der Landung wieder nach Hause geschickt. Norwegen beschloss nach einer ersten Lockerung des Corona-Lockdowns im Sommer 2020, die Grenzen für Einreisende aus Algerien, Marokko und Ruanda wieder zu öffnen, nicht jedoch für US-Amerikanerinnen. Fast schien es, als würde rings um Europa und die Vereinigten Staaten herum eine unsichtbare Mauer entstehen. Ein Kommentator in London fand es „schockierend„, dass westliche Pässe so rasch ihr Prestige einbüßten und plötzlich nicht mehr als globaler Türöffner funktionierte.
Nachdem Deutschland und weitere EU-Staaten (Finnland, Dänemark, Schweden, Ungarn und Belgien) im Februar dieses Jahres strikte Einreisebeschränkungen für Tschechien, die Slowakei und das österreichische Bundesland Tirol verhängte, kritisierte die EU-Kommission die Grenzkontrollen als „unverhältnismäßig“ und „diskriminierend“.
Aber „unverhältnismäßig“ und „diskriminierend“ sind die Grenzkontrollen erst recht im globalen Maßstab. Große Teile der Menschheit sitzen auch ohne Seuche in einer Art permanentem Lockdown fest. Das kann man am „Global Passport Index“ ablesen, einer kommerziellen Webseite, die den Wert von Reisepässen nach der Zahl der Staaten bewertet, in die man visafrei einreisen kann. Deutschland, Dänemark und Schweden befinden sich ganz oben auf der Liste, während ganz unten Länder wie Afghanistan, Irak oder Nigeria stehen. Dieser Zustand muss durch Lockerungsübungen im großen Stil überwunden werden.
„Es ist verrückt, dass ein kleiner Teil der Menschheit fast überallhin reisen und sich überall niederlassen kann, während der andere Teil – die große Mehrheit – zur Sesshaftigkeit verdammt ist.“
Es ist verrückt, dass ein kleiner Teil der Menschheit fast überallhin reisen und sich überall niederlassen kann, während der andere Teil – die große Mehrheit – zur Sesshaftigkeit verdammt ist. Wer das normal und gerecht findet, kann nicht gleichzeitig das Hohelied auf die Prinzipien der Demokratie und Menschenrechte singen. Der sollte offen zugeben, dass er die eigenen Interessen über universelle Menschenrechte stellt. Aber selbst dann ist es naiv zu glauben, man könnte im historischen Westen durch Zäune aus Stahl, biometrischen Daten und Frontex dauerhaft eine „weiße“ Parallelgesellschaft aufrechterhalten oder wiederherstellen.
Eine Parallelgesellschaft, die sich von der übrigen Menschheit abschottet, ist auf Dauer nicht möglich. Über kurz oder lang führt kein Weg daran vorbei, die Durchlässigkeit der Grenzen von Staaten für Migrationswillige in alle Himmelsrichtungen zu erhöhen. Kurz: Wir brauchen offene Grenzen. Also für alle, nicht nur für uns. Das heißt, dass alle Menschen ohne Visum – oder mit einem an der Grenze ausgestellten Visum – in andere Staaten einreisen und sich dort niederlassen können, solange sie niemandem Schaden zufügen.
Das klingt utopisch und ist auch so gemeint. Aber wer diese Utopie zurückweist, läuft Gefahr, sich an ihre hässlichen Alternativen zu gewöhnen. Erst kürzlich ist vor Libyens Küste wieder ein Boot mit 130 Flüchtlingen gesunken. Seit Anfang des Jahres wurden über 450 Tote gezählt, doch Unzählige ertrinken und werden nicht einmal registriert.
„Erst nach der Verabschiedung des Schengener Abkommens wurden zunehmend restriktive Grenzkontrollen für sie und andere Afrikanerinnen eingeführt. So wirkte Schengen wie ein großer „Weißmacher“ Europas.“
Die brutale Abschottung war keineswegs immer so. Sizilien ist bis heute geprägt von einer langen Geschichte der Migration zwischen der Insel und dem gegenüberliegenden Tunesien – eine Geschichte, die Europa längst vergessen hat. Auch der junge François Mitterand betrachtete das Mittelmeer in den fünfziger Jahren nicht als Grenze zwischen „Kontinenten“, sondern als „hellen blauen See im Herzen Eurafrikas“. Auch viele Jahre nach ihrer Unabhängigkeit waren die Grenzen Frankreichs offen für Reisende aus Ländern wie Mali, der Elfenbeinküste oder dem Senegal. Bis in die achtziger Jahre konnten sie relativ einfach und legal nach Frankreich einreisen. Zehntausende Senegalesinnen arbeiteten allein in der französischen Automobilindustrie. Erst nach der Verabschiedung des Schengener Abkommens wurden zunehmend restriktive Grenzkontrollen für sie und andere Afrikanerinnen eingeführt. So wirkte Schengen wie ein großer „Weißmacher“ Europas.
Noch gleicht die globale Migrationsordnung einer Straßenverkehrsordnung, in der die Ampeln für die meisten immer auf Rot stehen und für einige wenige immer auf Grün. Gleichzeitig starrt eine wachsende Zahl gestrandeter Migrantinnen in Lagern für unbestimmte Zeit auf eine gelbe Ampel, die nicht umspringen will.
Wer werden die guten Europäerinnen sein, die vor und nach der Bundestagswahl 2021 daran erinnern, dass es lange Zeit legale Migrationsrouten aus dem globalen Süden nach Europa gab, die erst vor Kurzem gekappt wurden? Und dass solche Routen im Interesse aller wiedereröffnet werden müssten? Erste Vorschläge werden längst diskutiert. Eine Liberalisierung des Aufenthaltsrechts („Spurwechsel“ für abgelehnte Asylbewerberinnen) und befristete Arbeitsvisa gegen Kaution, Schnupper-Visa und Talentkarten wären zumindest ein Anfang. Meinung
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