60 Jahre Türkei-Anwerbeabkommen
Steinmeier: „Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund“
„Sie sind nicht 'Menschen mit Migrationshintergrund' - wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei einer Veranstaltung zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in Berlin türkische Einwanderer als wichtigen Teil Deutschlands gewürdigt.
Montag, 13.09.2021, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 12.09.2021, 11:46 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Familien türkischer Einwanderer als wichtigen Teil Deutschlands gewürdigt. Ein Deutschland ohne die sogenannten Gastarbeiter, ihre Kinder, Enkel und Großenkel sei heute „schlicht nicht mehr vorstellbar“, sagte Steinmeier am Freitag bei einer Veranstaltung zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in Berlin. Sie und Einwanderer aus anderen Ländern hätten viel dazu beigetragen, dass Deutschland heute gesellschaftlich offener und vielfältiger, wirtschaftlich stärker und wohlhabender sei.
Er sei fest davon überzeugt, dass es Heimat im Plural gebe, erklärte Steinmeier laut vorab veröffentlichtem Redemanuskript: „Deutsch zu sein, das kann heute genauso bedeuten, dass die Großeltern aus Köln oder Königsberg stammen wie aus Istanbul oder Diyarbakir.“ An die Adresse von Eingewanderten sagte er bei der Gesprächsveranstaltung in Schloss Bellevue: „Sie sind nicht ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ – wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!“
Steinmeier erinnerte in seiner Rede vor geladenen Gästen an „schwer zu ertragene“ Bilder der Anwerbung: „Die erniedrigende Leibesvisitation bei der Einstellungsuntersuchung, deutsche Amtsärzte, die mit herzloser Routine Gebisse untersuchen, durchnummerierte Menschen in Unterwäsche; wir sehen baufällige Baracken, in denen viel zu viele auf kleinstem Raum hausen mussten; entwurzelte und entkräftete Menschen, ausgezehrt von der harten Arbeit.“
Noch immer Chancenunterschiede
Der Bundespräsident erinnerte auch daran, dass viele Zuwanderer vor 60 Jahren keinen einfachen Start in Deutschland gehabt hätten. „Es gab keine Sprachkurse, keine Unterstützung, keine Integrationspolitik, und zwar aus dem einfachen Grund, dass Integration schlicht nicht gewünscht war“, sagte er. „Nach zwei Jahren sollten die Menschen wieder ihre Koffer packen.“ An diesen Versäumnissen habe sich lange nichts geändert: „Es war ein langer, ein schmerzhafter Weg, bis unsere Gesellschaft viel zu spät bereit war, das Unausweichliche und Überfällige, das Richtige zu akzeptieren: Diese sogenannten Gastarbeiter sind weder nur Gäste noch nur Arbeitskräfte.“
Noch immer unterschieden sich die Chancen auf Bildung und sozialen Aufstieg „um Welten“, sagte Steinmeier. Eine bessere Zukunft werde „es nicht geben, solange Ausgrenzung, Vorurteile, Ressentiments den Alltag unserer Gesellschaft durchziehen“. Es erschüttere ihn, wenn Menschen mit anderer Hautfarbe, Sprache oder Religion bis heute zur Zielscheibe von Hass und Hetze würden, sagte er. Fremdenhass dürfe in Deutschland niemals geduldet werden.
Muslime sind hier zuhause
Gläubige Muslime gehörten zum deutschen Gemeinwesen, genauso wie säkulare Zuwanderer, betonte der Bundespräsident. „Wenn wir sagen, ‚ihr seid hier zuhause‘, dann muss auch ihr Glaube in all seiner Vielfältigkeit hier eine Heimat haben.“ Dazu gehörten zum Beispiel die Ausbildung von Imamen oder der islamische Religionsunterricht an den Schulen.
„Solange aber das Bild des Islams in Deutschland von Stereotypen und Vorurteilen geprägt ist, solange die Luft dünner wird für diejenigen, die sich für den organisierten Islam in unserer demokratischen Verfasstheit einsetzen, solange Kooperationsformate abgesagt werden aus Angst vor der öffentlichen Meinung, so lange ist das ‚Heimatversprechen‘ nicht eingelöst“, sagte Steinmeier.
Mit der Anwerbung sogenannter Gastarbeiter aus dem Ausland hatte die Bundesrepublik Deutschland in den Wirtschaftswunderjahren auf den steigenden Bedarf an Arbeitskräften reagiert. Im Jahr 1955 wurde das erste Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen, die Übereinkunft mit der Türkei folgte am 30. Oktober 1961. Die Arbeitsmigranten übernahmen vor allem Jobs als un- oder angelernte Arbeiter in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in der Stahl- und Automobilindustrie sowie im Bergbau. (epd/mig) Aktuell Politik
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