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Interview mit Drecoll

An NS-Verbrechen Beteiligte zur Rechenschaft ziehen

Heute beginnt in Brandenburg der Prozess gegen einen früheren SS-Wachmann des KZ Sachsenhausen. Der 100-Jährige muss sich wegen Beihilfe zum Mord in 3.518 Fällen verantworten. Es müssten auch angesichts jahrzehntelanger Versäumnisse der Justiz alle Anstrengungen unternommen werden, um weiter NS-Verbrechen aufzuklären und die Tatbeteiligten zur Rechenschaft zu ziehen, sagte der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Axel Drecoll, im Gespräch.

Von Donnerstag, 07.10.2021, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 06.10.2021, 17:19 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Wie viele Täter aus Personal und Leitung des KZ Sachsenhausen haben sich bisher vor Gericht verantworten müssen?

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Axel Drecoll: Nur ein winziger Bruchteil der Täter musste sich vor Gericht verantworten. Die Historikerin Stefanie Bohra hat in Ihrer Dissertation für die Bundesrepublik ermittelt, dass es bis 2005 insgesamt 257 Strafverfahren gegen 340 Tatverdächtige des KZ Sachsenhausen gab, die mehrheitlich dem KZ-Kommandanturstab angehörten. In geringerem Umfang fanden weitere Verfahren vor sowjetischen Militärtribunalen und in der DDR statt. Dem stehen Tausende SS-Männer gegenüber, die von 1936 bis 1945 im KZ Sachsenhausen tätig waren, sei es im Kommandanturstab oder als Angehöriger der Wachtruppe.

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Was für Fälle waren das und wie sind die Verfahren ausgegangen?

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Nach unseren Recherchen wurden 36 Sachsenhausen-Täter von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt, zehn von ihnen zum Tode. In der DDR, wo nur wenige verblieben waren, standen drei Sachsenhausen-Täter vor Gericht, die hohe Haftstrafen erhielten. In der Bundesrepublik wurden insgesamt 29 SS-Männer aus Sachsenhausen verurteilt. Für die westdeutschen Verfahren lässt sich generell sagen, dass sogenannte Exzesstäter, die häufig auch willkürlich Häftlinge misshandelten und ermordeten, im Fokus standen und zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Schreibtischtäter konnten bei den Richtern mit Nachsicht rechnen. Drei Viertel der Verfahren wurden ohnehin aus Mangel an Beweisen eingestellt. Gustav Wegner, von 1940 bis 1944 Kommandeur der Wachtruppe des KZ Sachsenhausen, der 1947 von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war, die er in Workuta und in der DDR verbüßte, erhielt sogar nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik eine hohe Haftentschädigung.

Was erwarten Sie von dem Prozess gegen den inzwischen 100 Jahre alten früheren SS-Wachmann, der am 7. Oktober in Brandenburg an der Havel beginnen soll?

Zunächst einmal begrüßen wir es, dass die deutsche Rechtsprechung mit dem Demjanjuk-Urteil vom Prinzip des individuellen Tatnachweises abgerückt ist, so dass sich nun die letzten lebenden Angehörigen der Konzentrationslager-SS vor Gericht verantworten müssen. Kennzeichnend für die Mordmaschinerie in den Konzentrationslagern ist ihre arbeitsteilige Organisation. Jeder SS-Angehörige trug an seiner Stelle dazu bei, dass sie reibungslos funktionierte. Nicht zuletzt angesichts der jahrzehntelangen Versäumnisse der Justiz bei der Verfolgung von NS-Verbrechen sind wir es den Opfern und ihren Nachkommen schuldig, alle Anstrengungen zu unternehmen, um diese Taten aufzuklären und die Tatbeteiligten zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Mann war laut Landgericht Neuruppin von Januar 1942 bis August 1944 und von Dezember 1944 bis Februar 1945 in Sachsenhausen im Einsatz. Was ist in diesen Zeiträumen in dem Konzentrationslager geschehen?

Es ist die Phase der Expansion des KZ-Systems unter dem Eindruck des Kriegsverlaufs. Die Häftlingszahl steigt kontinuierlich, die Häftlinge werden zur Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft eingesetzt, unter anderem in den zahllosen Außenlagern, die ab 1942 entstehen. Gleichzeitig bleibt das KZ Sachsenhausen ein Ort von Mord und Massenmord. Nach dem Abbruch des Massenmordes an den sowjetischen Kriegsgefangenen im November 1941 kommen im Winter 1941/42 weitere rund 1.700 Rotarmisten aufgrund der katastrophalen Haftbedingungen um oder werden erschossen. Anfang Mai 1942 werden 71 niederländische Widerstandkämpfer von Angehörigen der Wachtruppe erschossen.

Ebenfalls im Mai 1942 wurde die „Station Z“, ein Gebäude, in dem die Vernichtungsanlagen konzentriert werden, fertiggestellt. Bei der ersten Mordaktion Ende Mai werden hier 250 Juden ermordet. Viele weitere Morde an Häftlingen oder auch an Menschen, die eigens zum Zweck ihrer Ermordung nach Sachsenhausen verschleppt werden, folgen.

1943 wird in der „Station Z“ eine Gaskammer installiert. Als Himmler Ende Januar 1945 den Befehl zur Vorbereitung der Räumung des KZ Sachsenhausen gab, begann die Phase der „Kriegsendverbrechen“: Ab Anfang Februar ermordete die SS mehr als 3.000 als „marschunfähig“ selektierte Häftlinge, weitere 13.000 Häftlinge, vorwiegend Kranke und Juden, wurden in die Sterbelager Bergen-Belsen und Mauthausen transportiert.

Ist noch mit weiteren Prozessen gegen ehemaliges Personal des KZ Sachsenhausen oder auch des KZ Ravensbrück zu rechnen?

Soweit uns bekannt ist, laufen derzeit noch weitere Ermittlungsverfahren gegen KZ-Täter. Ob es auch in diesen Fällen zur Anklage kommen wird, bleibt abzuwarten. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama

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