60 Jahre Anwerbeabkommen
Die aus Anatolien kamen…
Alle zehn Jahre feiern wir das Anwerbeabkommen mit der Türkei. Und immer noch steht der Begriff „Anatolien“, als Synonym für Unbildung und Rückständigkeit - mit welchen Folgen? Ein Augenzeugenbericht von jemandem, der selbst im „Gastarbeiterzug“ nach Deutschland saß.
Von Jochen Menzel Freitag, 22.10.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 21.10.2021, 15:44 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
Wenn nun, wie alle 10 Jahre wieder, in vielen Feierlichkeiten an das Anwerbeabkommen mit der Türkei vor 60 Jahren gedacht wird, sollten wir uns auch diesen Fragen stellen: Was war der Nährboden für die rassistischen Anschläge, die von Mölln, Solingen bis Hanau inzwischen 3 Jahrzehnte umspannen, und denen möglicherweise weitere folgen? Sind diejenigen, die damals als „Gastarbeiter aus Anatolien“ kamen, auch mit ihrer Sprache, Kultur, als Menschen, wirklich angekommen, ja aufgenommen?
West-östliche Begegnungen in Istanbul
Als ich mich – damals Student – 1971 auf den Weg nach Indien machte, kam ich über Edirne schließlich in Istanbul an. Die Hotels in Sultanahmet gegenüber der Blauen Moschee füllten Hippies aus aller Welt, die hier mit ihren Flöten, Gitarren und Schlafsäcken Station machten. Es war eine Bewegung der Jugend, millionenfach, die nach dem Niedergang der 68er Proteste eine neue Perspektive, eine geistige Orientierung suchte. Mit Hermann Hesse‘s Siddharta im Gepäck, hofften wir im Orient, in Afghanistan, in Indien zu finden, was uns im Westen versagt blieb: einen tieferen Lebenssinn jenseits der Welt der Dinge und des Konsums. Nachdem uns die „äußere“ Befreiung nicht geglückt war, wollten wir es jetzt mit der „inneren“ versuchen.
Im Istanbuler „Puddingshop“, einem Café nicht weit von der Hagia Sophia, wurde die Weiterreise nach Indien organisiert, hier bildeten sich Reisegemeinschaften für die nächsten Wochen. Ein lebendiger Ort des Austausches, in den sich auch die türkischen 68er und Musiker mischten, wie die späteren Gründer der anatolischen Rockgruppe „Moğollar“, die hier mit den Hippies aus dem Westen beim gemeinsamen „joint“ musizierten.
Bewegung in die umgekehrte Richtung
„Und so begann eine Einwanderung, mit der sich die deutsche Gesellschaft noch immer schwer tut, sie nicht recht wahrhaben will. Abzulesen am Wort ‚Zuwanderung‘, – eine Sprachschöpfung, nur um das Wort Einwanderung zu vermeiden.“
Aber es gab auch etwas anderes, eine noch größere Bewegung, in die umgekehrte Richtung. Denn das Anwerbeabkommen mit der Türkei des Jahres 1961 setzte eine folgenreiche Migration in Gang, – der wir so wenig Beachtung schenkten. Obwohl es doch auch eine Jugendbewegung war, vielleicht etwas älter, die sich in den Westen, nach Deutschland aufmachte, die ihr Glück nicht in Mantras und Meditation suchte. Ihr ging es um Arbeit und Einkommen, die Ernährung der zurückgelassenen Familien, – mit der Hoffnung auf Ersparnisse, die nach der geplanten Rückkehr in die alte Heimat für einen neuen Traktor, eine kleine Maschine reichen sollten.
Als sich im Jahr meiner Reise herumsprach, dass es 1973 zu einem Anwerbestopp kommen würde, machte sich eine Art Torschlusspanik breit. Von Istanbul bis Doğubeyazit an der iranischen Grenze, überall Menschen, die mich in Teestuben, in Bussen und Zügen löcherten mit ihren Fragen nach einem Weg, nach Adressen in Deutschland. Und so begann eine Einwanderung, mit der sich die deutsche Gesellschaft noch immer schwer tut, sie nicht recht wahrhaben will. Abzulesen am Wort „Zuwanderung“, – eine Sprachschöpfung, nur um das Wort Einwanderung zu vermeiden.
60 Jahre später – aus der Türkei ins deutsche Exil
Wieder erreicht Deutschland eine Migrationsbewegung aus der Türkei. Zahlenmäßig gering, doch wegen seiner politischen Brisanz medial umso präsenter. So auch in einem Gespräch, das ich jüngst mit einem Journalisten bei einem freundschaftlichen Essen führte. Ein Alt 68er, mit linksliberalem Background, ehemals in leitender Position, inzwischen pensioniert. Wir sprachen über die Folgen des gescheiterten Putsches im Sommer 2016, über Regisseure, Literaten, Filmemacher, Intellektuelle, die seither vor staatlicher Repression in Deutschland Zuflucht suchten.
Und dann fiel eine Bemerkung, aus einem berufserfahrenen, journalistischem Munde, die mich stutzig machte. Es war die Feststellung, dass nun endlich diejenigen kämen, mit denen man sich auf Augenhöhe austauschen, unterhalten könne!
Wie bitte, hatte ich das nicht schon einmal, in anderem Kontext gehört?
„Der Begriff ‚Anatolien‘, der seit Jahren als Synonym für Unbildung, Analphabetentum, Grobheit, Naivität, radebrechendes Deutsch in Gebrauch war. Diese Haltung, – ein tiefsitzendes Vorurteil vor allem bei Vertretern einer linksliberalen ‚Leitkultur‘.“
Eine Bemerkung, die mich traf. Denn sie war auf den „Gastarbeiter“ aus Anatolien gemünzt, sie galt den Migranten, für die Deutschland inzwischen zur Heimat geworden war, wenn auch viel zu oft ohne Wahlrecht und ohne große deutsche Sprachkenntnisse. Und sie galt dem Begriff „Anatolien“, der seit Jahren als Synonym für Unbildung, Analphabetentum, Grobheit, Naivität, radebrechendes Deutsch in Gebrauch war. Diese Haltung, – ein tiefsitzendes Vorurteil vor allem bei Vertretern einer linksliberalen „Leitkultur“ – sollte mir noch häufiger begegnen.
Zum Beispiel bei der Arbeit an einem Dokumentarfilm für das deutsche Fernsehen. Unser Protagonist, ein türkischer Arbeitsmigrant der ersten Stunde, wurde gedrängt, in den Interviews Deutsch zu sprechen, obwohl es ihm sichtbar schwer fiel. Auch das schmerzte, denn ich sah, dass die gleiche Redaktion dem amerikanisch stämmigen Musiker in einem anderen Film, wenn er auf Deutsch nicht weiter wusste, großzügig sein Englisch mit Untertiteln zugestand.
Und ging die so oft gehörte Frage des Arztes an türkischstämmige Patienten, die nach einem arbeitsreichen Leben für eine Frühverrentung zum ärztlichen Gutachter bestellt wurden, nicht in die gleiche Richtung? Wenn er dem Patienten mit strenger Stimme vorhielt: Jetzt sind Sie schon seit 40 Jahren hier und brauchen immer noch einen Dolmetscher!
Anatolien – das große Missverständnis
Aber wie konnte es zu diesem hartnäckigen Missverständnis Anatoliens kommen, einer der reichsten und vielfältigsten Kulturlandschaften dieser Welt? Von der die türkische Altphilologin Azra Erhat zusammen mit vielen anderen, wie dem Schriftsteller Sabahatin Eyüboglu, schrieb „Wie glücklich, wer sagen kann, ich stamme aus Anatolien“. Und sie fragte: „Ist es nur ein kleines Glück, in diesem Land zur Welt zu kommen, wo eine Fülle von Zivilisationen miteinander verschmolzen sind…?“(s. Stimmen Anatoliens, 1969)
„Einer zieht die Balalaika aus der Verpackung, man singt, träumt von Kurdistan, der Ägäis, dem Vesuv, macht sich Sorgen um den kranken Esel daheim, die zum 12. Mal schwangere Frau, die Weinernte…“
Doch ganz anders die anhaltende Wahrnehmung, – Anatolien, ein tragisches Missverständnis, gepaart mit Ignoranz. Als wir für eine Dokumentation über einen türkischen Einwanderer in den BR – Archiven recherchierten, fanden wir einen Filmbericht über einen der Gastarbeiterzüge, die auf dem Gleis 21 am Münchner Hauptbahnhof ankamen. Es muss Ende 1960 gewesen sein. Wir sehen junge Männer und Frauen, müde und etwas scheu aus dem langen Zug entsteigen. Erwartungsvolle Blicke. Wasserflaschen, kleines Gepäck, auch die Saz, die Bağlama ist dabei. Denn mit den Menschen kamen auch ihre Lieder, Gedichte und Geschichten. Der Sprecher kommentiert: „Ungewohnt der neuen Umgebung folgen die Neuankömmlinge willig den Anordnungen. Der Bahnsteig muss nicht einmal durch die Bahnpolizei abgesperrt werden.“
Und weiter spöttisch, herablassend: “Einer zieht die Balalaika (gemeint ist die Bağlama, J.M.) aus der Verpackung, man singt, träumt von Kurdistan, der Ägäis, dem Vesuv, macht sich Sorgen um den kranken Esel daheim, die zum 12. Mal schwangere Frau, die Weinernte …“ Ein fast zynischer, als Ironie verpackter Blick nach unten, verächtlich auf das Kinderkriegen, den Esel usw. anspielend, als Distinktion zur westlich-abendländischen Kultur.
Anpassungsdruck – Distanz zur Herkunft
Doch wird nicht auch die Herabsetzung der reichen Kulturregion Anatoliens von türkischen Intellektuellen oder Einwanderern der 2. Generation, – in der Regel bereits zu deutschen Staatsbürgern geworden – viel zu oft mitgetragen? Man insistiert darauf, nicht aus Anatolien zu kommen, sondern aus Istanbul, nicht vom Dorfe aus dem Südosten der Türkei, sondern aus der Stadt. Und wie oft wird in Erwartung einer Zustimmung betont, dass jede neue Moschee in Deutschland eine zu viel sei. Wir sind ja schließlich Laizisten! Man will dem Druck entgehen und beweisen: Schaut her, es gibt auch uns, die anderen, nicht nur die Gastarbeiter Anatoliens.
„Überwunden geglaubte Diskriminierungen, Vorurteile über Anatolien erleben ein Revival, drapiert als kulturelle West-Ost Differenz.“
Und steckt nicht auch ein Stück dieser Distanzierung in dem Buchtitel „Hört auf zu fragen, ich bin von hier“, mit dem die zornige Journalistin Ferda Ataman auf die lästige Frage “Woher kommst du, eigentlich“ antwortete?
Und wie ähnlich ist auch die Reaktion der bekannten Autorin Kübra Gümüşay, die aus ihrem vielgelobtem Buch „Sprache und Sein“ die Leseempfehlung für den bedeutenden türkischen Literaten Necip Fazıl Kısakürek mit einer Entschuldigung entfernen ließ, als man sie auf dessen antisemitische Haltung in anderen Texten hinwies! Als ob die deutsche Kulturelite jemals an eine Ächtung oder gar Zensur von Martin Luther oder Richard Wagner wegen ihrer heftigen antisemitischen Tiraden gedacht hätte!?
Und suchten die Regisseure der Filme wie „Sivas“ 1 oder „Mustang“ 2, nicht auch nach Distanz zu diesem mißverstandenen Anatolien, wenn sie Menschen vorführten, wie sie in teils archaischen,- der Zuschauer wird sagen „anatolischen“- Gewohnheiten gefangen handeln? Beziehen diese Filme, jenseits ihrer unbestrittenen Qualitäten, nicht auch daraus ihren Applaus und die Preise?
Mit dem seit Jahren anhaltenden, medial dominierenden „Erdoğan bashing“ wird diese Distinktionsneigung verstärkt. Wieder ist es die Rückständigkeit des „anatolischen Gastarbeiters“ in Deutschland oder gleich die ganze türkische Gesellschaft, die für dessen autokratisches Regime haften soll. Überwunden geglaubte Diskriminierungen, Vorurteile über Anatolien erleben ein Revival, drapiert als kulturelle West-Ost Differenz.
Dabei gerät völlig aus dem Blick die widersprüchliche Dynamik, mit der sich Anatolien, von Tunceli/Dersim, Diyarbakır im Osten bis nach Istanbul sozio-kulturell, städtebaulich verändert. Exemplarisch für diese Haltung mag der aus Istanbul berichtenden Spiegelredakteur Maximilian Popp sein, der selbst die logistische Glanzleistung des Umzuges des Istanbuler Flughafens vor 2 Jahren – bei laufendem Betrieb (!) – an einem Tag nur mit Spott zu kommentieren wusste. Warum fällt das so wenigen auf?
Im Zug von Istanbul nach München
„All diese spöttischen Missverständnisse und schrägen Bilder haben Folgen. Sie sorgen für Vorbehalte, legitimieren Diskriminierungen, die den Boden für rassistische Gewalt bereiten können. Sie dürfen deshalb beim Rückblick auf 60 Jahre türkische Arbeitsmigration nicht ausgeklammert werden.“
All diese spöttischen Missverständnisse und schrägen Bilder haben Folgen. Sie sorgen für Vorbehalte, legitimieren Diskriminierungen, die den Boden für rassistische Gewalt bereiten können. Sie dürfen deshalb beim Rückblick auf 60 Jahre türkische Arbeitsmigration nicht ausgeklammert werden.
Denn wollen wir uns wirklich nur mit der Literatur von Orhan Pamuk und Yasar Kemal, Nazim Hikmet begnügen? Warum haben wir immer noch nicht die Weisheiten des anatolischen Mystikers und Sufis Yunus Emre (1250- 1321) entdeckt, dem die UNESCO anlässlich seines 700. Todes das Jahr 2021 widmete? Ein Derwisch und Poet, der das Denken und Sprechen der Menschen Anatoliens noch heute prägt. Oder warum sind die Lieder der türkischen Barden in ihrem universellen Humanismus, wie er in den Versen von Aşık Veysel anklingt, noch so unbekannt? Und warum konnte der geniale türkische Pianist Fazıl Say, der mit seinen Kompositionen, Lieder-Zyklen den Weltrang türkischer Musiktraditionen seit Jahren in die deutschen Konzertsäle trägt, dieses Bild nicht ändern?
Als ich vor 60 Jahren auf dem Rückweg aus Indien war, bestieg ich im Istanbuler Bahnhof Sirkeci den Zug nach München. Es war einer der Gastarbeiterzüge, wie er im zitierten Fernsehbericht zu sehen war. Fast 3 Tage lang saßen wir freundschaftlich nebeneinander, schliefen in einem kleinen Abteil. Und sie, die auf dem Wege zur Arbeit in Deutschland waren, teilten mit mir, dem hungernden, abgemagerten Hippy ihren Proviant, den ihnen ihre Mütter und Schwestern eingepackt hatten: Hühnerschenkel, Fladenbrot, Weintrauben, Wasser. Denn sie wussten was es bedeutet, unterwegs zu sein.
Diese Begegnung mit anatolischer Kultur lebt in meiner Erinnerung fort, als Kultur in seiner elementaren und schlichtesten Form: der Fähigkeit zu teilen, Freud und Leid, oder eben auch den knappen Reiseproviant.
Denn lehrt uns die Geschichte nicht, was in einem der türkischen Sprichwörter so treffend ausgedrückt wird?:
„Biri yer biri bakar, kıyamet ondan kopar“ – Wenn einer isst und der andere zuschauen muss, ist das der Anfang des Weltuntergangs.
- Regie Kaan Müjdeci, 2014 Spezialpreis der Jury, Venedig
- Regie Deniz Gamze Ergüven aus dem Jahr 2015, Oscar nominiert
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