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„Wir sind in einem Gefängnis“

Neues Auffanglager auf Samos und die Erosion des Rechts auf Asyl

„Closed Controlled Access Center of Samos“, heißen neue Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln. Der Name ist Programm. Die Menschen leben wie in einem Gefängnis: Die Unsicherheit ist chronisch, das Recht auf Asyl ausgehöhlt.

Von Dienstag, 16.11.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 16.11.2021, 10:36 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

„Closed Controlled Access Center of Samos“ prangt auf dem Schild, das der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis am 18. September stolz der Presse und europäischen Gästen präsentiert. Mitten in der Pampa auf der Insel Samos eröffnet hier das erste der fünf neuen Auffanglanger, die sich die griechische Regierung und die EU-Kommission für die Zukunft der ägäischen Inseln erdacht haben. Während die EU-Kommission lieber im neutralen Ton von „Multi-Funktionalen Auffang- und Identifizierungszentren“ spricht, hat sich die griechische Regierung mit ihrem Namenswunsch durchgesetzt. „Geschlossen kontrolliert“ gibt auch besser den Eindruck wieder, der sich Beobachtenden einstellt: 150.000 Quadratmeter aus weißen Containern und Beton, Überwachungskameras wohin man sieht, Lautsprecheranlagen und metallene Drehtüren, alles umringt von zwei Reihen Stacheldrahtzaun. Mit einer Kapazität für 3100 Menschen, integrierten Supermärkten, „Restaurants“, Quarantäne-Bereich und Asylbüros soll das Lager Sicherheit schaffen und die „Auswirkungen der Einwanderung in den lokalen Gemeinschaften reduzieren“, wie es Mitarakis ausdrückt. Allein in das Lager von Zervou sind 48 Millionen Euro der EU geflossen. Weitere 228 Millionen sind für die vier weiteren Lager auf Leros, Kos, Chios und Lesvos verbucht.

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Acht Kilometer von Zervou entfernt liegt das alte Auffanglager direkt am Rand der Inselhaupstadt Vathy. Zwei Tage vor dem Umzug ist die Stimmung hier extrem angespannt. Auf einer Protestkundgebung im Stadtzentrum haben sich ein Dutzend Aktivist*innen und einige Bewohner*innen aus dem Lager versammelt. Viele sind nicht gekommen aus Angst vor negativen Auswirkungen auf ihr Asylverfahren. Der syrisch-palästinensische Filmemacher Ahmad Ibrahim, der selbst lange im Lager lebte, zeigt einen Film, der die Sorgen vor dem Umzug nach Zervou gut einfängt:

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„Die Dinge, die wir in Syrien nicht gesehen haben, haben wir hier gesehen.“

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„Wir sind in einem Gefängnis und das neue Lager ist ein Gefängnis. […] Ich kam hierher [im August 2019], um behandelt zu werden. Ich bin aus Syrien gekommen. Ich bin ein Opfer des Krieges. Mein Vater starb durch Sarin-Gas, ich wurde verletzt. Ich bin seit zwei Jahren hier, sie haben nichts für mich getan. Ich bin psychisch instabil. Ich habe angefangen mein Gedächtnis zu verlieren. Jetzt wollen sie mich in ein neues Lager bringen. Die Dinge, die wir in Syrien nicht gesehen haben, haben wir hier gesehen.“

So beschreibt einer der Protagonisten, Ramadan ein weit verbreitete Gefühl der Ausweglosigkeit sowie der physischen und psychischen Erschöpfung, die das Leben auf Samos mit sich gebracht haben.

Psychische Belastung der chronischen Unsicherheit und des Wartens

“Wenn ich das [neue Lager] sehe, dann erinnert mich das an ein Freiluftgefängnis. An nichts anderes“, meint Daniela Steuermann, medizinische Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen (MSF) auf Samos. Fehlende Informationen, das monatliche Verschieben des Umzugs seit Juni sowie das Gefühl, im neuen Lager an der Endstation angelangt zu sein, mache der psychischen Gesundheit ihrer Patienten enorm zu schaffen: „Selbstverletzendes Verhalten war ein großes Problem. Vor einigen Wochen haben sich viele Menschen gerade aus Syrien direkt vor der Klinik im Auffanglager mit Messern und Skalpellen selbst verletzt, weil da war einfach so viel Frustration. Es ist eine bedrohliche Situation, weil wenn ein Mensch zu etwas greift, dann spiegelt das die Hoffnungslosigkeit wider.“

„Die Leute sind wirklich müde, sie warten schon so lange.“

Am 19. September, in der Nacht vor dem Umzug, bricht im alten Lager ein Feuer aus. Niemand wird verletzt. Ein Mann aus Vathy reißt Witze über Barbecues, viele Bewohner:innen stehen mit ihrem Hab und Gut am Rand der Straße. Während die Polizei die ersten Menschen verhört, wird eine Gruppe unbegleiteter Minderjähriger noch vor Sonnenaufgang von Mitarbeitenden der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in das menschenleere Lager von Zervou gebracht. Die Ursache des Feuers ist nicht geklärt. Für Anna, eine Sozialarbeiterin der IOM steht aber fest: „Es ist Teil einer Demonstration. Wenn Menschen versuchen auf eine, sagen wir, ‚demokratischere‘ Art und Weise zu sprechen und nicht gehört werden, ist es normal, dass sie protestieren, weil sie nicht gehen wollen. Die Leute sind wirklich müde, sie warten schon so lange.“

„Geschlossen kontrollierter“ Alltag

Am nächsten Morgen beginnt der Transport aus dem alten Lager nach Zervou. Mitarbeitende der NGO EuroRelief packen Taschen in die bereitstehenden Busse. Ein Bulldozer des griechischen Militärs steht schon bereit, um die Spuren des alten Lagers schnellstmöglich zu beseitigen. In Zervou werden alle Ankommenden im Eingangsbereich mit Metallscannern von Sicherheitsleuten der britischen Firma GS4 durchsucht. Nur wenige Pressevertreter:innen bekommen Einlass. In der ersten Woche darf niemand das Lager verlassen, warum genau bleibt unklar, so wie vieles in der oftmals willkürlichen Verwaltung der Lager.

Wie auch auf Lesvos bezieht sich die Regierung auf Gesetze zum Infektionsschutz, um in den Lagern Ausgangsbeschränkungen durchzusetzen, die in dieser Form sonst nirgendwo im Land gelten. Auch nach der ersten Woche bleibt das zentrale Tor von Zervou zwischen acht Uhr abends und acht Uhr morgens geschlossen, „um innerhalb des Lagers und für die lokale Gemeinschaft ein Gefühl der Sicherheit zu schaffen“, so der Migrationsminister Mitarakis. Wer zu spät zurückkommt werde bestraft, „wie jeder, der gegen die Hausregeln verstößt“.

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Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Samos © Wasil Schauseil

Um einkaufen zu gehen, an Sprachkursen teilzunehmen oder um die für das Asylverfahren unentbehrliche rechtliche Hilfe in Vathy zu suchen, sind die Menschen im neuen Lager auf einen privaten Bus-Service angewiesen, denn zu Fuß dauert der Weg zwei Stunden. Schnell kommt es zu ersten Protests im Lager, weil ein Hin- und Rückfahrt-Ticket nach Vathy 3,60 Euro kostet, was bei der monatlichen Unterstützung von 75 Euro die Bewegungsfreiheit enorm einschränkt.

Bessere Lebensbedingungen oder Gefahr der Retraumatisierung?

Seit dem Brand von Moria war eine EU-Taskforce damit betraut worden, sich für „humane“ EU-Standards in Geflüchtetenlagern, wie dem in Samos, einzusetzen. Verbindlich festgelegt wurden solche Standards nicht. Investigative Recherchen fanden heraus, dass sich die Taskforce, die griechische Regierung sowie andere EU-Agenturen und internationale Organisationen monatlich trafen, um die fünf Lager zu konzipieren. Unter ihnen war auch die EU-Agentur für Menschenrechte, die dazu aufrief, auf „Stacheldraht und gefängnisähnlichen Zäune“ sowie uniformiertes Personal möglichst zu verzichten, „um das Risiko von Retraumatisierung von Menschen zu verhindern, die Gewalt und Verfolgung erlitten haben“.

Anstatt auf diese Warnungen der Menschenrechtsagentur einzugehen, setzt die griechische Regierung mit Unterstützung von EU-Geldern auf das neue Echtzeit-Überwachungssystem CENTAUR, bestehend aus Kameras, Drohnen und Bewegungsanalysen mithilfe künstlicher Intelligenz. Die Überwachungsdaten landen in einem neuen Kontrollzentrum, das am Tag des Umzugs unter dem Beisein von 26-EU Botschafter:innen in Athen eröffnet wird. Alle 36 Lager im Land sollen künftig von dort kontrolliert werden. Diese neue Stufe der Überwachung stellt die griechische Regierung als wichtigen Beitrag zur Sicherheit der Bewohner:innen, des Personals und den lokalen Gemeinschaften dar. Derweil tweetet der EU-Kommissionsvize Schinas, zuständig für die „Förderung des europäischen Lebensstils“, dass das neue Lager von Zervou „Asylbewerber und Migranten mit Würde und unter Achtung der Werte, auf denen unsere Union beruht, [aufnimmt].“

„Wir sind weder schlechte noch gewalttätige Menschen, aber dieser Ort treibt uns langsam in den Wahnsinn.“

„Würdevoll“ und „sicher“ beschreiben nicht die Erfahrungen der Geflüchteten auf Samos. Auch die besseren Lebensbedingungen in Form von Klimaanlagen, sauberen Containern und umzäunten Spielplätzen sind nach Jahren des Festsitzens auf der Insel zweitrangig geworden. Die Angst vor der Isolation in dem neuen Lager sowie der Wunsch, die Insel um jeden Preis zu verlassen, dominieren die Worte derer, mit denen ich sprechen kann. In einem offenen Brief syrischer Geflüchteter, zehn Tage nach dem Transfer nach Zervou, heißt es: „Wenn wir hier bleiben und zum Nichtstun verurteilt sind, leiden wir und sind eine Belastung für unsere Familien. […] Wir sind weder schlechte noch gewalttätige Menschen, aber dieser Ort treibt uns langsam in den Wahnsinn.“

Ein Beschwerdebrief von Europe Must Act an die örtliche Lagerverwaltung wies indes auf erhebliche Mängel im Lager und Beschwerden der Bewohner:innen hin, die unter anderem von der schlechten Qualität der Essensrationen berichten. Probleme bei der Kühlung hatten schon in der Vergangenheit dazu geführt, dass in Athen verpackte Essensrationen schlecht geworden waren. Daniela Steuermann von MSF Samos bestätigt, dass in der Vergangenheit Menschen wegen Lebensmittelvergiftungen behandelt werden mussten. Eigene Lebensmittel konnten sich die Bewohner:innen in Zervou bisher nicht leisten, da im Oktober niemand die monatliche Unterstützung von 75 Euro erhielt. Dieses Problem betraf seit dem 15. September mindestens 36.000 Asylsuchende im ganzen Land, wie in einem offenen Brief von 26 zivilgesellschaftlichen Organisationen in Griechenland beklagt wird. Darin heißt es: „Schätzungen zufolge erhalten 60 Prozent der in Lagern lebenden Menschen auf dem Festland keine Nahrungsmittel. Ernährungsunsicherheit, geschweige denn völliger Nahrungsentzug, sollte niemand erleben, schon gar nicht durch den Staat.“

Die Eindämmung „primärer Bewegungen“ und Aushöhlung des Rechts auf Asyl

Die restriktive Politik gegenüber Schutzsuchenden hat sich seit Regierungsübernahme durch die rechts-konservative Neo Demokratia erheblich verschärft. Zu beobachten ist eine stetige Zunahme von erzwungenen Rückführungen („Pushbacks“) über die Land– und Seegrenzen. Neben dem Bruch des „Non-Refoulement-Gebots“ (Rückführungsverbot) sind solche Rückführungen mit systematischen Misshandlungen und Erniedrigungen durch Sicherheitskräfte verbunden, darunter der Einsatz von Foltertechniken wie Scheinhinrichtungen und Elektroschläge. Wegen der hohen Zahl an illegalen Rückführungen sind die Zahlen des UNHCR über registrierte Ankünfte nicht akkurat und sollten mit Statistiken über verhinderte Ankünfte verglichen werden, wie sie zum Beispiel Aegean Boat Report (ABR) veröffentlicht. Ein Vergleich: Während das UNHCR seit Beginn des Jahres lediglich die 3,324 registrierten Asylsuchenden zählt, registrierte ABR im selben Zeitraum mindestens 20.938 Menschen, deren Registrierung als Asylsuchende in Griechenland verhindert wurde. Pushbacks sind nur ein Teil der Regierungsstrategie, um „primäre Bewegungen“ von Flüchtenden nach Europa zu einzudämmen.

Im Juni erließ die Regierung eine Verordnung, mit der sie die Türkei zum sicheren Drittstaat für Menschen aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Pakistan und Bangladesch erklärte. Asylsuchende aus diesen Ländern, die seit Juni über die Türkei nach Griechenland gelangen, müssen nun individuell nachweisen, dass ihnen in der Türkei keine Verfolgung droht. Wer diese Zulässigkeitsprüfung nicht besteht, darf keinen Antrag auf Asyl stellen und muss selbst in die Türkei zurückkehren oder mit der Abschiebung rechnen. Die Türkei erklärt sich zur Rücknahme jedoch nicht bereit.

Wir sprechen über Länder, in denen es Menschenrechtsverletzungen gibt, in denen es Verfolgung gibt. Die Zulässigkeitsprüfungen gehen nicht auf das Wesentliche ein: Warum sind Sie aus Ihrem Land geflohen? Nein, alle Fragen drehen sich nur noch um die Reise oder den Aufenthalt in der Türkei“, kritisiert Stella Nanou vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Amelia Cooper vom Legal Center Lesvos beobachtet durch die Türkei-Entscheidung eine deutliche Zunahme von „copy-paste“-Ablehnungen, die das Recht auf ein faires Asylverfahren unterlaufen.

So steht zu befürchten, dass einer wachsenden Zahl von Geflüchteten ein rechtlicher Schwebezustand droht, in dem sie weder in Europa Asyl beantragen, noch in die Türkei zurückkehren können. Lange Perioden von Abschiebeverwahrung sind die logische Folge. Die neuen „multifunktionalen“ Lager wie auf Samos werden dabei eine wichtige Rolle spielen, da in jedes ein eigener Abschiebebereich integriert sein wird. Bis zu 18 Monate können abgelehnte Asylbewerber:innen dort in Abschiebeverwahrung gehalten werden. Leitartikel Panorama

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