„Ich lebe und ich habe Hoffnung“
Ein Besuch bei den ersten Geretteten der „Sea-Watch 4“
Cisse, Christian und Narcisse waren unter den ersten Geretteten des Seenotrettungsschiffs „Sea-Watch 4“. Ein Jahr später kämpfen sie noch immer um eine Zukunft in Europa. Ein Besuch in Lyon, Toulouse und dem norditalienischen Asti.
Von Constanze Broelemann Donnerstag, 09.12.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.12.2021, 15:18 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Sommer 2021 im französischen Lyon. „Der 23. August 2020 ist der Tag meiner Rettung“, sagt Cisse. Sie sitzt auf einer Bank auf einem Spielplatz. Ihr zweijähriger Sohn Ali hat gerade das Fahrrad eines anderen Kindes in Beschlag genommen und freut sich riesig über das Spielzeug.
Im August vor einem Jahr saß die heute 28-jährige Frau von der Elfenbeinküste noch an Deck des Seenotrettungsschiffes „Sea-Watch 4“, den kleinen Jungen in einem Tuch um die Brust gewickelt und in Ungewissheit darüber, was in Europa auf sie zukommen würde. Die „Sea Watch 4“, ein auf Initiative der evangelischen Kirche in Deutschland gekauftes Schiff, lief damals zu seiner ersten Rettungsmission ins zentrale Mittelmeer vor der libyschen Küste aus.
Alpträume und Schlafstörungen
Die Überfahrt über das Mittelmeer gehört zu den gefährlichsten Fluchtrouten der Welt. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind in diesem Jahr bislang mindestens 1.650 (Stand: 3.12.) Menschen bei der Überfahrt ums Leben gekommen oder werden vermisst. Cisse und Ali sind zwei von 353 Menschen, die die zivilen Seenotretter der „Sea-Watch 4“ auf ihrer ersten Fahrt aus dem Meer bargen.
Sie leben nun in einer Unterkunft für Menschen ohne Aufenthaltspapiere in Lyon. Das Gebäude ist heruntergekommen. Die Gemeinschaftsduschen und Küchen haben schon bessere Zeiten gesehen. Aber immerhin, sei es ruhig hier im Heim, sagt Cisse. Dennoch: Viele ihrer Mitbewohner hätten psychische Probleme – sie hätten zu viel Schlechtes erlebt.
Auch Cisse ist traumatisiert, hat Alpträume und Schlafstörungen, die durch Folterungen in Libyen ausgelöst worden sind. Seit Februar ist sie in psychologischer Betreuung. Der Arzt hat ihr eine schwere posttraumatische Störung attestiert.
Dach über’m Kopf
Cisse teilt sich mit ihrem Sohn ein kleines Zimmer. Unter dem Bett holt sie an diesem Morgen aus einer Plastiktüte ein Brot hervor. Sie bestreicht es mit Marmelade und gibt es ihrem Sohn zum Frühstück. Das Brot hat sie von der Essensausgabe der Heilsarmee. Dorthin geht sie zweimal täglich, um sich und ihr Kind zu versorgen. Sie habe wenigstens ein Dach über dem Kopf, sagt sie. Keine Selbstverständlichkeit, denn nicht wenige Asylsuchende leben auf der Straße.
So wie der 24-jährige Christian aus Kamerun. Aus seiner Unterkunft in einem Vorort von Toulouse sei er rausgeflogen, weil er einen Freund in seinem Zimmer beherbergt habe, erzählt er. Wie Cisse war er Passagier der „Sea-Watch 4“. Und wie sie wartet er auch nach über einem Jahr Aufenthalt in Europa noch auf seinen Asylbescheid.
Wie ein Schatten streift Christian durch Toulouse. Ohne Papiere, ohne Unterkunft und immer in Sorge, von der Polizei aufgegriffen zu werden. Wenn es warm genug ist, schläft er auf einer Parkbank am Fluss Garonne: „Die Nacht vergeht schneller, als man denkt“, sagt er.
Düfte inhalieren bei Hunger
Manchmal sitzt er stundenlang in der Nähe der Place du Capitole im Zentrum der Stadt und beobachtet das Treiben. Hat er Hunger, geht Christian an den teuren Restaurants in der Altstadt entlang und inhaliert die Essensgerüche, die zu ihm herüberwehen. Allein der Geruch von Essen sättige ihn, sagt er. Manchmal bekommt er Essen geschenkt, davon bewahrt er dann einen Teil auf, den er bei einem Bekannten gegen einen Schlafplatz tauschen kann.
Nach Kamerun will der praktizierende Christ aber auf keinen Fall zurück. Denn er ist homosexuell: für seinen christlichen Glauben eine Herausforderung und in seinem Heimatland ein strafrechtliches Vergehen. Er hat Angst vor Verfolgung. Christian spricht Englisch und Französisch. In seiner Heimat hatte er begonnen, Kommunikationswissenschaften zu studieren.
Für Menschen wie Cisse und Christian ist es schwer, in Europa einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Sie durchlaufen ein sogenanntes Dublin-Verfahren. Demnach ist das Land für ihren Asylentscheid zuständig, in dem sie erstmalig europäischen Boden betreten haben. In beiden Fällen ist das Italien, da die „Sea-Watch 4“ schließlich einen Hafen in Sizilien fand. Dorthin müssen Menschen wie Cisse und Christian eigentlich zurück.
Unterschiedliche Biografien
„Die Bleibeperspektive ist eine Kategorie, die bei einer Seenotrettungsmission außer Acht bleibt und bleiben muss“, erklärt Ansgar Gilster, Gründungsmitglied von „United4Rescue“. Der Verein hat sich 2019 auf Initiative der evangelischen Kirche in Deutschland gegründet und Spenden für den Kauf der „Sea-Watch 4“ gesammelt.
Die Biografien der aus Seenot Geretteten gingen oft ganz unterschiedlich weiter, sagt Gilster. Für alle aber gelte: Es bedürfe am Anfang Integrationsangebote und eine Existenzsicherung, um sich zu orientieren, die Sprache zu lernen und auf dem Arbeitsmarkt ein Auskommen zu finden. Nicht alle erhielten diese Möglichkeiten.
Der 19-jährige Narcisse hat – anders als Cisse, Ali und Christian – eine fünfjährige Duldung erhalten. Er ist in Italien geblieben. Die Zeit nutzt der gebürtige Kameruner. Er paukt italienisch und spielt Fußball in der „Scuola Calcio Astigiana“ in Asti – als Stürmer. Vor einem Jahr an Bord der „Sea-Watch 4“ war das sein großer Wunsch, bald wieder Fußball spielen zu können.
An alle Regeln halten
Narcisse weiß um das Privileg, das die fünfjährige Duldung für ihn bedeutet. Er bemüht sich, sich an alle Regeln zu halten. Eine Straße überquert er nie auf direktem Wege, sondern sucht einen Zebrastreifen – auch wenn das bedeutet, dass er einen Umweg gehen muss.
In Libyen, einer Station auf seiner Flucht, hat er Automechaniker gelernt. In Italien würde er gerne in diesem Beruf arbeiten – auch um seine Mutter und seine Schwestern zu unterstützen. In seiner Heimat herrscht Bürgerkrieg. Seine Familie habe er schon lange nicht mehr gesprochen.
Im „Camp“ in Asti gehe es ihm jedoch gut. Mit über 40 Männern lebt er dort. Nur eine Sache hätte er gerne anders: nicht so viel Pasta. Immer gebe es Nudeln, dort in Asti.
Hoffen auf einen milden Winter
Cisse hat inzwischen in Frankreich Asyl beantragt. Ihre Chancen nicht abgeschoben zu werden, sind derzeit gut – sie ist erneut schwanger. Und auch das ärztliche Attest, das ihre psychische Erkrankung belegt, schützt sie vor einer Rückführung. Darin heißt es, dass es indiskutabel sei, sie nach Italien zurückzuschicken.
Der obdachlose Christian hofft auf einen milden Winter; momentan hat er noch keine Ahnung, wo er einen Schlafplatz für die kalte Jahreszeit finden kann. Ob sich die Flucht für ihn nach Europa gelohnt hat, kann er noch nicht beantworten: „Ich lebe und ich habe Hoffnung“, sagt er. „Es gibt viele Menschen auf dieser Welt, die leiden. Aber Gott wird die Türen für die Leidenden öffnen“, sagt er und hat doch selbst noch keine offene Tür gefunden. Er will auf jeden Fall in Europa bleiben. Wenn es in Frankreich mit dem Aufenthalt nicht klappe, dann eben in einem anderen europäischen Land. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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