Erfolgsmodell
50 Jahre betriebliche Mitbestimmung von Migranten
Millionen Menschen in Deutschland sind von Wahlen ausgeschlossen, weil sie nicht deutsche Staatsbürger sind. Eine verpasste Chance, wie das Wahlrecht in Betrieben zeigt.
Von Fessum Ghirmazion und Isaf Gün Mittwoch, 12.01.2022, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 13.01.2022, 9:09 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Ampel-Koalition hat viel versprochen in ihrem Koalitionsvertrag: unter anderem Einbürgerungserleichterungen, neue Einwanderungsregeln, mehr Engagement gegen Diskriminierung. In den Bereich des Wahlrechts hat sich Jamaika aber nicht getraut. Dabei gab es auch anlässlich der Bundestagswahlen Initiativen, die das Wahlrecht für Menschen ohne deutschen Pass forderten. Diese Forderungen sind nicht neu. Auch die IG Metall setzt sich seit den 80er Jahren für das kommunale Wahlrecht ein. Und auch im letzten Jahr war dies einer unserer migrationspolitischen Forderungen. Denn mittlerweile werden etwa 14 Prozent von diesem demokratischen Recht ausgeschlossen.
Was bei der Debatte unbeachtet bleibt: Das aktive und sogar passive Wahlrecht für alle (über 18 Jahren) gibt es bereits in Deutschland. Und zwar im Betrieb. Und das bereits seit 1972.
Im Januar jährt sich die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes zum 50. Mal: Seitdem dürfen Menschen ohne deutschen Pass nicht nur wählen (das dürfen sie seit 1952), sondern sich auch wählen lassen. Dies ist bis heute einmalig in Deutschland!
„Die betriebliche Erfahrung macht deutlich: Demokratische Rechte führen zu einer starken Teilhabe von Beschäftigten mit Migrationshintergrund. Von daher ist die betriebliche Mitbestimmung ein migrationspolitisches Erfolgsmodell.“
Die betriebliche Erfahrung macht deutlich: Demokratische Rechte führen zu einer starken Teilhabe von Beschäftigten mit Migrationshintergrund. Von daher ist die betriebliche Mitbestimmung ein migrationspolitisches Erfolgsmodell.
Wissenschaftlich wurde dies durch die sogenannte „BIM-Studie“ von 2017 untermauert. Während 26 Prozent aller Mitglieder im Betrieb einen Migrationshintergrund haben, sind es im Betriebsrat 25 Prozent. Bei den Vertrauensleuten, also der gewerkschaftlichen Vertretung im Betrieb, sind es sogar 37 Prozent.1 Mit Blick auf die gute Repräsentanz, schreiben die Wissenschaftler:innen in ihrem Abschlussbericht: „Die hohe Beteiligung IG Metall Mitgliedern mit Migrationshintergrund in diesen Strukturen ist auch für den Forschungsstand zu diesem Gegenstand ein überraschendes Ergebnis (…)“.
Von daher ist die betriebliche Mitbestimmung ein gutes Beispiel für die Gesellschaft. Nicht zuletzt aus diesem Grund setzt sich die IG Metall seit Jahrzehnten für das kommunale Wahlrecht für alle ein. Die IG Metall und die Gewerkschaften zeigen: Integration, Teilhabe und Mitbestimmung funktionieren im Betrieb. Und leisten somit einen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft.
„Positive Beteiligungserfahrungen im Arbeitsleben gehen mit einer signifikant geringeren Abwertungsbereitschaft einher. Positive Erfahrungen von Beteiligung, Solidarität und Anerkennung im Betrieb stärkt die Zufriedenheit mit der Demokratie.“
Diese These wird empirisch durch die Leipziger Autoritarismus-Studie untermauert, die Ende 2020 veröffentlicht wurde. Ein Kernergebnis: Autoritäre, extremistische Einstellungen bleiben weiterhin eine Bedrohung für die offene, demokratische Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es aus betrieblicher Sicht eine wichtige Erkenntnis: Positive Beteiligungserfahrungen im Arbeitsleben gehen mit einer signifikant geringeren Abwertungsbereitschaft einher. Positive Erfahrungen von Beteiligung, Solidarität und Anerkennung im Betrieb stärkt die Zufriedenheit mit der Demokratie.
„Industrial Citizenship (…) erweist sich als wichtiger protektiver Faktor für demokratische Orientierungen… Wer in zentralen Lebensbereichen die Möglichkeit hat, Demokratie konkret zu erfahren, der wird ein demokratisches Bewusstsein entwickeln.“2 Ganz konkret haben die Forscher:innen nachgewiesen: Wer Demokratie im Betrieb konkret erfährt, neigt weniger zu rechtsextremen Einstellungen und lehnt anti-muslimisches, frauen- und migrantenfeindliches Gedankengut eher ab.
Info: IG Metall hat am 13. Oktober 2020 die „Initiative Mitbestimmung“ beschlossen. Sie fordert darin eine Runderneuerung der Betriebsverfassung und der Unternehmensmitbestimmung. Weitere Informationen gibt es hier.
Dieses empirische Wissen über die demokratische Wichtigkeit des Betriebs, sollte sich mehr in gesellschaftspolitischen Debatten, Initiativen und Forderungen speisen. Denn sie würden sie stärken.
In den nächsten Wochen finden Betriebsratswahlen statt, an dem auch Menschen mit Migrationshintergrund ihr aktives und passives Wahlrecht nutzen werden, um einen starken Betriebsrat zu wählen, der sich für die Interessen der Beschäftigten einsetzt. Denn gerade in einer Zeit der vielschichtigen Umwälzungen, der Transformation und des demografischen Wandels, ist es unabdingbar, dass sich Arbeitnehmer:innen organisieren und mit einer Stimme sprechen – egal welchen Pass sie haben.
- Benner, Christiane/Ghirmazion, Fessum (2017): Mitglieder mit Migrationshintergrund in der IG Metall – Gewerkschaften und Arbeitswelt als Wegbereiter für Integration, in: WSI-Mitteilungen 04/2017, Seiten 296-300.
- Kiess, Johannes/Schmidt, Andre (2020): Beteiligung, Solidarität und Anerkennung in der Arbeitswelt: industrial citizenship zur Stärkung der Demokratie, in: Decker, Oliver/Brähler, Elmar (Hg.), Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität, Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 119-147.
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