Russland-Ukraine-Konflikt
Russlanddeutsche solidarisieren sich mit der Ukraine
Seit 2014 kam es in post-sowjetischen Familien zu Zerwürfnissen. Nun organisieren „Brückenbauer“ Kundgebungen, Spenden sowie Transporte und Unterkünfte für Flüchtlinge aus der Ukraine.
Von Tatjana Kohler Mittwoch, 02.03.2022, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.04.2022, 7:07 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Mit Beginn des russisch-ukrainischen Konflikts im Februar 2014 ging ein Riss durch viele post-sowjetische Familien, darunter auch zahlreiche Russlanddeutsche. Der Umgang mit dem meist intergenerationellen Konflikt reicht von einer Art Gentlemans Agreement, bei Zusammenkünften heikle Themen zu beschweigen, bis hin zu vollständigen Kontaktabbrüchen. Darüber berichtete vor kurzem die Mannheimer Journalistin Ira Peter: „Wenn Papa auf Putins Propaganda hört“.
Mit Russlands Völkerrechtsbruch und der Invasion am 24. Februar 2022 rückte (fast) aller Zwist in den Hintergrund. Denn seit den frühen Morgenstunden an jenem Donnerstag engagieren sich zahlreiche Russlanddeutsche unermüdlich für die Menschen in der Ukraine, so auch die Selbstorganisationen und individuell agierenden Influencer unter ihnen:
Sie beteiligen sich bundesweit an der Organisation von Anti-Kriegs- und Solidaritätsbekundungen. Sie initiieren und teilen Aufrufe für Geld- und Sachspenden sowohl für die wehrpflichtigen Männer (und kampfbereiten Frauen) als auch für die westwärts ziehende Zivilbevölkerung. Und sie vermitteln Transporte und Unterkünfte für Flüchtlinge aus der Ukraine.
Diese den Russlanddeutschen oft zugeschriebene Funktion als „Brückenbauer“ können sie vor allem deshalb wahrnehmen, weil viele von ihnen über teils familiär, teils universitär vermittelte Kenntnisse der russischen und/oder ukrainischen Sprache verfügen.
Nur drei von vielen engagierten Menschen
Katharina Martin-Virolainen
Zunächst wäre da die freie Journalistin und Autorin Katharina Martin-Virolainen aus Eppingen bei Heilbronn (Jahrgang 1986 aus Karelien). Ihr Vater ist ein Kasachstandeutscher mit Vorfahren aus Wolhynien (heute: West-Ukraine), ihre Mutter ist die Tochter eines Finnen und einer Russin.
„Ich habe mich nie dazu geäußert. Weil es einfach zu sehr weh tat. Russland und Ukraine. Eine ewig klaffende, pochende Wunde in meinem Herzen. „
Die „deutsche Autorin mit finnischen Wurzeln und russischer Seele“ beginnt ihre Stellungnahme zu Russlands Angriff auf die Ukraine wie folgt: „Ich habe mich nie dazu geäußert. Weil es einfach zu sehr weh tat. Russland und Ukraine. Eine ewig klaffende, pochende Wunde in meinem Herzen. Ich habe mich immer zurückgehalten und gehofft, dass dieser Albtraum irgendwann doch ein Ende hat. Das, was passiert, darf nicht sein. (…) Doch heute hat dieser Albtraum ganz neue Ausmaße genommen.“
Seit Jahren schon engagiert sich Katharina für die historische Aufarbeitung und Aufklärung. Darüber schrieb sie als freie Autorin schon für die Moskauer Deutsche Zeitung (Russland), für die Deutsche Allgemeine Zeitung (Kasachstan) sowie für die monatliche Verbandszeitung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. namens „Volk auf dem Weg“ – letzteres mit der eigenen Kolumne „Kathis Senf“.
Als Leiterin des 2018 gegründeten Kinder- und Jugendtheaters Eppingen erhielten sie und ihr Nachwuchs-Ensemble, dessen erstes eigenes Stück „Es war einmal in Wolhynien“ heißt, bereits zwei beachtlich dotierte Auszeichnungen. Und im Frühjahr 2021 erschien Katharinas Debüt-Roman „Die Stille bei Neu-Landau“ über die Geschichte der Schwarzmeerdeutschen zunächst unter nationalsozialistischer Besatzung und später in der germanophoben Sowjetunion.
Dietmar Schulmeister
„Ich schäme mich zweifach. Ich bin in Russland geboren. Meine Muttersprache ist u.a. Russisch. Bereits seit Monaten, ja gar seit Jahren wissen wir alle im Westen, dass Russland eine Erweiterung der Kriegshandlungen in der Ukraine plant.“
Als Nächstes sei der Kommunikationsberater Dietmar Schulmeister aus Düsseldorf vorgestellt (Jahrgang 1991 aus Russland). Der Sohn einer Russlanddeutschen und eines Russen fand für Russlands Völkerrechtsbruch klare Worte: „Ich schäme mich zweifach. Ich bin in Russland geboren. Meine Muttersprache ist u.a. Russisch. Bereits seit Monaten, ja gar seit Jahren wissen wir alle im Westen, dass Russland eine Erweiterung der Kriegshandlungen in der Ukraine plant. Einen Angriffskrieg auf ein souveränes Land in Europa. Und nun ist der Tag gekommen. Russland begann eine militärische Invasion. Und im deutschen Fernsehen interessieren sich alle nur für die energetische Versorgungssicherheit, anstatt die Menschen in der Ukraine zu schützen. Wtf!“
Im Jahr 2013 übernahm Dietmar die Mitgliedschaft seiner verstorbenen Urgroßmutter in der führenden Selbstorganisation der Russlanddeutschen hierzulande, der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. (LmDR). Seit 2017 ist er Vorsitzender einer der größten LmDR-Landesgruppen, in Nordrhein-Westfalen, und treibt vor Ort die Vernetzung voran zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und den bundesweit sechs Beauftragten für Aussiedlerfragen.
Dietmar ist der Initiator der seit 2018 jährlich stattfindenden „Russlanddeutschen Kulturtage“ sowie der 6-teiligen Image-Kampagne „Russlanddeutsche im Fokus“. Seit 2021 ist er Präsidiumsmitglied der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft für Wirtschaft und Wissenschaft e.V. In den sozialen Medien tritt er seit Beginn des Angriffskriegs wiederholt als Netzwerker in Erscheinung.
Ira Peter
Schließlich gibt es die schon zu Beginn erwähnte Journalistin sowie Autorin und PR- und Marketingberaterin Ira Peter aus Mannheim (Jahrgang 1983, Kasachstan). Ihre Großeltern waren deutsche Kolonisten in der historischen Region Wolhynien (heute West-Ukraine).
Die junge Frau ist seit November 2020 Mit-Initiatorin und Co-Host beim Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“ am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte. Hier geht es zur Folge vom 25. Februar 2022 mit dem brisanten Titel: „Kasachstan, Ukraine und die Steppenkinder“.
Zwischen Juni und Oktober 2021 war Ira die Stadtschreiberin Odessa/Одеса, gefördert vom Deutschen Kulturforum östliches Europa, und schrieb neben dem Kultur- und Geistesleben der „Perle am Schwarzen Meer“ über die Geschichte der deutschen und jüdischen Minderheit in der Region. Hier geht es zum Blog, den sie trotz formalem Abschluss des Stadtschreiber-Stipendiums am Tag der russischen Invasion reaktivierte.
„Bitte richtet euren Fokus nicht auf Russlanddeutsche, die Putins Lügen glauben. Richtet ihn auf uns, die auf die Straße gehen für Frieden [zwei Herzen in den Farben der ukrainischen Fahne] Wir sind mehr!“
Die aktuelle Lage nutzt sie, um sich und anderen Russlanddeutschen Gehör zu verschaffen. In einer Instagram-Story vom 26. Februar 2022 richtete sie einen Appell an die Medienschaffenden: „Bitte richtet euren Fokus nicht auf Russlanddeutsche, die Putins Lügen glauben. Richtet ihn auf uns, die auf die Straße gehen für Frieden [zwei Herzen in den Farben der ukrainischen Fahne] Wir sind mehr!“
Verlinkt sind etwa die Instagram-Auftritte der Initiative „Ostklick – Demokratisch antworten“, des feministischen X3-Podcasts, der FAZ-Journalistin Natalia Wenzel-Warkentin, der ZEIT-Journalistin Viktoria Morasch, des FAZ- und ZEIT-Journalisten Artur Weigandt sowie der ehemaligen, bis dato erfolgreichste Bahnradsportlerin Kristina Vogel.
Viele Brückenbauer
Diese drei Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft – Katharina Martin-Virolainen, Dietmar Schulmeister und Ira Peters – leisten, jeder auf seine Art, ihren Beitrag, um der ihnen zugeschriebenen Funktion als „Brückenbauer“ gerecht zu werden. Bei den Demonstrationen beten sie gemeinsam mit Russen, Ukrainern, Belarussen und Georgiern für den Frieden.
Daneben gibt es noch zahlreiche andere Individuen und spezialisierte Einrichtungen, die aufklären über die Russlanddeutschen als „die größte Bevölkerungsgruppe mit der längsten – [in der Sowjetunion, T.K.] knapp über 70 Jahre währenden – Diktaturerfahrung“ (Dr. Viktor Krieger). Dazu zählen das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland, die Interessengemeinschaft der Deutschen aus Russland in Hessen und das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte. Sie alle leisten ihren Beitrag zur Völkerverständigung. Meinung
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