Wütend und hilflos
Zur Aufnahme Geflüchteter
Die unglaublich große Hilfsbereitschaft für Geflüchtete aus der Ukraine ist zu begrüßen. Gleichzeitig sterben Menschen an Europas Grenzen. Diese Ungleichbehandlung macht mich gleichzeitig wütend und hilflos.
Von Dominik Hüging Freitag, 18.03.2022, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 02.04.2022, 6:52 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Wenn ich die Berichterstattung zur Ukraine und zu ukrainischen Flüchtlingen sehe, lese und höre, bekomme ich regelrecht Beklemmungen. Zum einen aufgrund des Krieges und der furchtbaren Folgen. Zum anderen aber auch aufgrund der Reaktionen hier.
Eine unglaublich große Aufnahme- und Hilfsbereitschaft ist vollkommen zu begrüßen, so ein akuter Notstand, in unmittelbarer Nähe, löst zum Glück bei vielen den Impuls aus, etwas unternehmen zu müssen. Das ist zu 100 % zu unterstützen, die Menschen, die jetzt flüchten müssen, benötigen alle Unterstützung, die sie bekommen können.
Sie sind damit aber nicht allein.
„Zigtausende Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Elend und unzähligen anderen Gründen geflüchtet sind, werden an Europas Grenzen mit schrecklichster Gewalt daran gehindert, europäischen Boden zu betreten. Sie werden buchstäblich im Mittelmeer ertränkt, an der türkisch-griechischen Grenze erschossen, an der polnisch-belarussischen Grenze im Wald erfroren.“
Zigtausende Menschen, die vor Krieg, Verfolgung, Elend und unzähligen anderen Gründen geflüchtet sind, werden an Europas Grenzen mit schrecklichster Gewalt daran gehindert, europäischen Boden zu betreten. Sie werden buchstäblich im Mittelmeer ertränkt, an der türkisch-griechischen Grenze erschossen, an der polnisch-belarussischen Grenze im Wald erfroren. Tausende Tote jedes Jahr. Und die, die es nach Europa schaffen, werden mit allen Mitteln von Sicherheit und Schutz ferngehalten.
Diese Ungleichbehandlung macht mich gleichzeitig wütend und hilflos. Ich halte es für richtig, die Geflüchteten aus Polen nach Deutschland zu holen. Gleichzeitig habe ich in meiner Beratung aktuell ein Brüderpaar aus Irak, der eine psychisch schwer belastet, der andere versucht seinen Bruder so gut es geht zu stützen. Beide haben es nach Wochen an der belarussischen Grenze nach Polen geschafft, nur um dort in einem geschlossenen Lager zu landen. Der eine Bruder hat in Polen mehrere Suizidversuche überlebt. Jetzt, hier, in vermeintlicher Sicherheit, wird die Abschiebung nach Polen angeordnet, zurück in die Zustände, unter denen er nicht weiterleben wollte oder konnte. Und die Brüder wissen nicht, ob sie das beide überleben werden. Was ist das für ein Schlag ins Gesicht, gleichzeitig den deutschen Politiker:innen dabei zuzusehen, wie sie sich mit Willkommenswünschen für diejenigen, die gerade aus Polen kommen, überschlagen.
„Andere, die in Landesaufnahmeeinrichtungen in NRW leben und seit Monaten darauf warten, endlich einer Kommune zugewiesen zu werden, werden jetzt in andere, ohnehin schon überfüllte Einrichtungen, verlegt, um Platz für die Ukrainer:innen zu schaffen.“
Andere, die in Landesaufnahmeeinrichtungen in NRW leben und seit Monaten darauf warten, endlich einer Kommune zugewiesen zu werden, werden jetzt in andere, ohnehin schon überfüllte Einrichtungen, verlegt, um Platz für die Ukrainer:innen zu schaffen. Menschen, die Monate auf bspw. fachärztliche Termine gewartet haben, werden von heute auf morgen verlegt, ohne Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse und müssen wieder von vorne anfangen. Menschen, die dringend auf privaten Wohnraum angewiesen sind, um ein kleines bisschen Stabilität zurückerlangen zu können, werden in Mehrbettzimmer verlegt, da für Einzelzimmer keine Kapazitäten mehr da sind. Für viele bedeutet das, wieder zurückgeworfen zu werden, das Gefühl des vollkommenen Ausgeliefertseins wieder und wieder zu erleben. Und das zwischenzeitlich sichtbare Licht am Ende des Tunnels ist wieder erloschen.
Im Radio kommen jetzt schon die Meldungen, dass die Kommunen mit der Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine an ihre Grenzen gelangen. Man muss kein Prophet sein, um anzunehmen, dass die ersten Leidtragenden diejenigen sind, die schon seit Monaten, teils Jahren darauf warten, endlich dorthin zu gelangen. Diese Plätze werden jetzt für andere benötigt …
„Bereits jetzt ist zu spüren, dass eine partielle Entsolidarisierung stattfindet. Auf der einen Seite gibt es die Kriegsflüchtlinge, die jetzt uneingeschränkte Unterstützung benötigen, auf der anderen Seite diejenigen, die die dringend benötigen Plätze blockieren.“
Bereits jetzt ist zu spüren, dass eine partielle Entsolidarisierung stattfindet. Auf der einen Seite gibt es die Kriegsflüchtlinge, die jetzt uneingeschränkte Unterstützung benötigen, auf der anderen Seite diejenigen, die die dringend benötigen Plätze blockieren.
Die Politik wäre gefragt, die große Solidarität zu nutzen, allen Geflüchteten größtmögliche Unterstützung zu gewähren und Teilhabe zu gewährleisten und die Gesellschaft an die zu erinnern, die bereits da sind und versuchen, ihre grausame Flucht hinter sich zu lassen. Es ist beschämend zu sehen, dass das Gegenteil passiert, und auf die Art und Weise sogar noch eine stärkere Konkurrenz und damit einhergehend eine Spaltung unter den Verwundbarsten unserer Gesellschaft herbeizuführen.
Lasst uns das nicht vergessen. Lasst uns, wo immer möglich, auf eine gute Aufnahme aller drängen und hinarbeiten. Meinung
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