Emigration wider Willen
Warum russische Künstler ihr Land verlassen
Nach dem Angriff auf die Ukraine haben Tausende Russen ihr Heimatland verlassen, darunter viele Intellektuelle und Künstler. Sie gehen aus Protest gegen die russische Regierung oder weil sie keine Zukunft mehr für sich in Russland sehen.
Von Irina Chevtaeva Mittwoch, 20.04.2022, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 20.04.2022, 12:52 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
„Am meisten tut mir leid, mich von meinem früheren Leben trennen zu müssen“, sagt Liudmila Ulitzkaja. Die russische Schriftstellerin hat Russland eine Woche nachdem Russland die Ukraine angegriffen hat, verlassen und lebt jetzt in Berlin. Ihre Bücher werden in Russland geliebt. In Moskau kritisierte sie oft die Behörden, sprach über Ungerechtigkeit, unterzeichnete Petitionen zur Verteidigung derer, deren Rechte verletzt wurden.
„Ich kann niemandem eine so erzwungene Abreise von zu Hause wünschen“, sagt Ulitzkaja. Sie berichtet von Erinnerungen ihrer Mutter und Großmutter, wie jene 1941 aus Moskau in den Ural evakuiert wurden, als die deutsche Armee bereits in der Nähe von Moskau war. „Heute ist die Stimmung die gleiche, da das Leben der Menschen von der Politik bestimmt wird und nicht vom gesunden Menschenverstand“, sagt die Schriftstellerin. Ulitzkaja wurde von ihrem ältesten Sohn aus Moskau rausgeholt. Russlands Krieg gegen die Ukraine bezeichnet die Schriftstellerin als „Wahnsinn“ und „Verbrechen“.
Mit dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine haben viele berühmte Kulturschaffende Russland verlassen, darunter die Schauspielerin Chulpan Khamatova, die Primaballerina des Bolschoj-Theaters Olga Smirnova, der Popstar Alla Pugacheva zusammen mit ihrem Ehemann, dem Komiker Maxim Galkin, sowie der Rockstar Zemfira.
300.000 Menschen Russland verlassen
Insgesamt sind es laut dem NGO-Projekt „OK Russians“ seit Kriegsbeginn mindestens 300.000 Menschen, die Russland, ihr Heimatland, verlassen haben. Laut einer Umfrage der Organisation sind die Hauptgründe für eine Ausreise, dass die Menschen nicht in einem Land bleiben wollen, das Krieg gegen seinen Nachbar führt oder weil sie Angst haben vor Repressalien oder weil sie keine Zukunft mehr für sich in Russland sehen.
Der Schriftsteller und Kardiologe Maxim Osipow zum Beispiel hat in der Stadt Tarusa gelebt, zweieinhalb Stunden von Moskau entfernt. Dort ging er nach Kriegsbeginn zusammen mit sechs anderen Menschen auf die Straße.
Wo mein Bett ist, ist mein Zuhause
Nun lebt Osipow in Berlin, geflüchtet. „Ich war immer dagegen, auszuwandern und dachte: Wenn sie dieses und jenes Gesetz verabschieden, muss ich ausreisen, und bin jedes Mal nicht gegangen. Ich hatte das Gefühl, dass ich in Russland das machen kann, was ich für notwendig halte, und im Westen nur das, was ich darf“, sagt er. Er schildert, wie ihm die Luft zum Atmen genommen wurde als sich das Gerücht verbreitete, dass Russland unter Umständen noch das Kriegsrecht ausrufen könnte.
Er schäme sich, dass er seine Freunde in Russland zurückgelassen hat, sagt er. Nicht jeder habe die Möglichkeit, zu fliehen. „Einige wollen ihre Eltern nicht verlassen, andere haben eine Kirchengemeinde.“ Der Schriftsteller sagt, dass er jetzt, wo er in Berlin ist, Russland nicht mehr als seine Heimat betrachtet: „Wo mein Bett ist, ist jetzt mein Zuhause. Alle Sachen, die ich habe, passen in einen Koffer.“
Russland immer noch Zuhause
Ulitzkaja hingegen hält Russland immer noch für ihr Zuhause. „Ich würde sehr gerne dorthin zurückgehen. Wann das sein wird, weiß ich nicht.“ Davor verbrachte sie viel Zeit in Berlin und nannte es eine ihrer Lieblingsstädte, jetzt ist alles ein bisschen anders. „Ich liebe Berlin, aber bei früheren Besuchen war es eine Reise, und jetzt ist es ein erzwungener Aufenthalt.“ Sie stelle sich darauf ein, länger zu bleiben. Derzeit studiert sie Dokumente über die Auswanderung der 1920er Jahre aus der UdSSR – vielleicht werden sie die Grundlage für ihren neuen Roman.
Osipow wird nun erst einmal drei Monate am Wissenschaftskolleg zu Berlin verbringen. Danach wird er auf Einladung russische Literatur an der Universität Leiden unterrichten. Manchmal gibt Osipow noch Online-Sprechstunden als Arzt: „Eine Patientin hat mich gerade angerufen und mich gebeten, mir ihr ihr Kardiogramm anzuschauen. Sie sagte dabei, dass sie gehört habe, dass ich Russland verlassen habe und dass sie hingegen ihre Heimat nie verraten würde, weil sie Putin unterstützt. Ich antwortete ihr, dass ich Putin zwar einen schnellen Tod wünsche, ich mir aber ihr Kardiogramm natürlich dennoch ansehe.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen