Grenzräume
Frontex – eine Abrechnung
Fabrice Leggeri trat Ende April als Generaldirektor der europäischen Grenzschutzagentur zurück. Viele Politiker:innen fordern Reformen, doch ist Frontex reformierbar? Eine Abrechnung
Von Lukas Geisler Sonntag, 15.05.2022, 21:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 16.05.2022, 5:36 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Für eine solche Abrechnung muss der Ursprung, der Entwicklungsprozess und die zugrundeliegenden Strukturen nachvollzogen werden. Fangen wir also am Anfang an: Frontex ist ein Akronym für frontières extérieures, auf Deutsch „Außengrenzen“, und ist die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Einblicke gibt die Agentur auf ihrer Website: „Unsere Vision: Schutz des Europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Dabei definiert Frontex als eigenen Auftrag, sichere und gut funktionierende Außengrenzen zu gewährleisten. Die Werte, die die Agentur dabei verkörpern will, sind „Professionalität“, „Respekt“, „Kooperation“, „Verantwortung“, „Einsatz“. Weniger leere Phrasen gibt es in der Praxis von der in Warschau ansässigen Agentur. Denn Frontex kann als paramilitärischer Arm einer Friedensnobelpreisträgerin – der Europäischen Union – angesehen werden.
Die Gründung
Die Europäische Union hat weder eine eigene Polizei noch ein eigenes Militär. Der Migrationswissenschaftler Bernd Kasperek erinnert sich in einem Hörfunkinterview, dass „man Anfang der 2000er Jahre relativ stark gespürt hat, dass da auf europäischer Ebene etwas passiert“. Gerade im Asylrecht passierte viel. 2004 wurde verkündet, dass es eine Grenzschutzagentur geben soll. Dass es damals dazu kam, war eigentlich nur konsequent: Durch Schengen I und II kam es zuerst in einer kleinen Koalition der Willigen, also Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten, zu einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit vor allem auf polizeilicher Ebene, aber mit dem Ziel, die Binnengrenzen abzuschaffen.
Die prinzipielle Regel der Schengener Abkommen ist Freizügigkeit von Waren und Personen nach innen und Grenzsicherung nach außen. Unter anderen wurde das computergestützte gemeinsame Schengener Informationssystem (SIS) 1995 zur besseren grenzübergreifenden Verbrechensbekämpfung eingerichtet. In den ersten Jahren ging es schlicht um Zusammenarbeit. Da dies aber nicht funktionierte, wurde Frontex gegründet.
Bürokrat, und Architekt der Agentur
Fabrice Leggeri war einer der Architekt:innen. Von 1996 bis 1999 arbeitete er im französischen Innenministerium in dem Bereich grenzüberschreitender Verkehr, Grenzen und Visa. Im darauffolgenden Jahr war er Projektleiter des Direktors für territoriale, administrative und politische Angelegenheiten im französischen Innenministerium. Zwischen 2000 und 2003 wurde er als nationaler Experte in die Europäische Kommission entsendet. Ab 2002 war Leggeri im Projektbereich der EU mit dem Namen „Management der EU-Außengrenzen“. Dieser empfahl die Gründung einer Agentur für die Europäische Grenz- und Küstenwache. Nach Stationen im außereuropäischen Ausland wurde er von 2013 bis 2015 Abteilungsleiter für „Irreguläre Migration“ im französischen Innenministerium.
Die Anfänge
Der Finne und Generalleutnant Ilkka Laitinen war von 2005 bis 2014 der erste Leiter von Frontex. 2006 hatte Frontex noch 19 Millionen Euro Budget, 2016 war es eine viertel Milliarde. 2005 startete Frontex mit 45 Angestellten, im Jahr 2011 waren es 298. Aus einer Vermittlerin zwischen nationalen Grenzschutzbehörden war schon in den ersten Jahren eine Instanz geworden, die die Grenzarchitektur der EU maßgeblich prägt. Damit gemeint sind die konkreten Maßnahmen an den Außengrenzen und genauso die Zusammenarbeit mit sogenannten Drittstaaten.
„Bei Frontex handelt es sich um einen Apparat, der von soldatischen und neoliberalen Männlichkeiten dominiert ist.“
Aus dem Abbau von Binnengrenzen entstanden für die Staaten der EU – zumindest so wahrgenommene – funktionale Zwänge: Migration wurde als europäisches Problem formuliert. Daraus folgte eine neue Dichotomie, und zwar die vom sicheren EU-Raum versus einem unsicheren Außen. Die Migrationswissenschaftler:innen Nikolai Huke, Dana Lüddemann und Jens Wissen folgerten schon 2014: Bei Frontex handelt es sich um einen Apparat, der von soldatischen und neoliberalen Männlichkeiten dominiert ist. Viele kamen aus (para-)militärischen Organisationen. Exemplarisch hierfür steht auch der erste Direktor. Ilkka Laitinen hat nämlich nicht nur einen militärischen Rang, sondern ist auch Mitglied des Beirats eines Think-Tanks, der zum militärisch-industriellen Komplex gehört.
Erste Menschenrechtsverletzungen
„Und noch viel gravierender sind bis heute die fehlenden Möglichkeiten, diese Menschenrechtsverletzungen juristisch zu verfolgen.“
Schon ab 2009 wurde immer wieder Kritik an konkreten Maßnahmen laut, wie etwa Menschenrechtsverletzungen in Libyen und Italien während operativer Einsätze. 2012 und 2013 dann an der türkisch-griechischen Land- und Seegrenze. Die Recherchen von Human Rights Watch und Pro Asyl zeigten, dass Flüchtende systematisch und völkerrechtswidrig zurückgewiesen wurden. Der Bericht von Pro Asyl klagt die griechische Regierung, die Grenzpolizei und die Küstenwache aufgrund dieser Praktiken an. Der Bericht folgert auch, dass das gesamte griechische Asyl- und Migrationssystem auf einer erheblichen Unterstützung und Finanzierung durch die EU basiert. Auch Frontex war schon damals in Griechenland im Einsatz. Und noch viel gravierender sind bis heute die fehlenden Möglichkeiten, diese Menschenrechtsverletzungen juristisch zu verfolgen.
Zu den Vorwürfen, dass Frontex im Jahr 2012 in illegale Pushbacks verwickelt war, äußerte sich Laitinen: „Ich kann nicht bestreiten, dass es diese Fälle gegeben hat“. Auf Anfrage des ARD-Magazins Monitor gab er dies 2013 erstmal zu. Zwar hatte es schon 2012 Urteile jeweils vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und dem Europäische Gerichtshof (EuGH) gegeben, die diese Praktik für menschenrechtswidrig erklärt haben und für die Einsätze von Frontex für nicht zulässig erachteten, allerdings änderte sich in den folgenden Jahren daran nichts.
Die Amtszeit von Leggeri
2015 wurde Fabrice Leggeri neuner Generaldirektor von Frontex. Aus den knapp 300 Angestellten wurden schnell 500. Im Februar 2017 äußerte er sich in einem Interview mit Der Welt kritisch über die zivile Seenotrettung und forderte, dass „das aktuelle Konzept der Rettungsmaßnahmen vor Libyen auf den Prüfstand“ gestellt werden müsse. Er monierte außerdem, dass die Hilfsorganisationen nicht mit den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten würden. Und er sich freuen würde, wenn „es mehr polizeiliche Ermittlungen“ gegen diese gäbe.
Jugend Rettet und Sea-Watch antworteten im April mit einem offenen Brief und einem Gesprächsangebot: „Was wirklich schlecht funktioniert, ist gegenwärtig die Zusammenarbeit mit staatlichen Akteuren im Einsatzgebiet“. Danach waren die Fronten in den letzten fünf Jahren klar. Auch die Entwicklungen der ersten Jahre verstetigten sich immer mehr. Und nicht nur das: Ein Skandal folgte dem anderen.
Ein Skandal folgt dem anderen
Das ZDF Magazin Royale legte zum Beispiel durch die Frontex Files offen, dass sich Frontex in geheimen Treffen mit Glock, Airbus und Heckler & Koch getroffen hat. Sie schreiben: „Die Teilnehmendenliste der 16 Lobby-Treffen der EU-Grenzschutzagentur Frontex in den Jahren 2017 bis 2019 liest sich wie das Who-is-Who der Rüstungsindustrie“. Für Menschen, die seit längerem die Entwicklung der Agentur verfolgen, war dies wohl kaum eine Überraschung. Bereits 2019 hatte Frontex einen Vertrag zur Beschaffung großer Drohnen ausgeschrieben. Den rechtlichen Rahmen bildete die neue Frontex-Verordnung von 2016, wonach die Agentur eigene technische Ausrüstung erwerben darf.
Nicht nur dadurch, sondern auch durch das Verhalten von Fabrice Leggeri wurde die Kritik immer lauter. Recherchen zu illegalen Pushbacks, in die Frontex verwickelt war, häuften sich und Leggeri tätigte Falschaussagen gegenüber dem EU-Parlament. Schließlich wurde ein Untersuchungsausschuss eingerichtet und das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) leitete Ermittlungen ein. Der EU-Abgeordnete Erik Marquardt stellte im März eine parlamentarische Anfrage unter anderem mit der Frage: „Was sind die Konsequenzen für die leitenden Mitarbeiter von Frontex, nachdem Ihre Kenntnis von Menschenrechtsverletzungen und Ihre Absicht, diese zu vertuschen, erwiesen sind?“
Grenzschutz der Superlative
„Leggeri war auf dem Weg, Frontex zu einer Grenzschutzagentur der Superlative zu machen. Und dieser Weg soll anscheinend weiter beschritten werden. Es offenbart sich ebenjenes Spannungsverhältnis, das seit Gründung der Agentur besteht. Eine glaubhafte Menschenrechtspolitik ist unvereinbar mit der genuinen Aufgabe von Frontex: dem Schutz der Außengrenzen – und damit die Begrenzung von Migration.“
Am 29. April 2022 trat Fabrice Leggeri schließlich zurück. Sein Fehlverhalten soll nun weiter untersucht werden. Was allerdings ins Auge sticht: Die EU-Kommission verteidigt Frontex. So wiesen Sprecher der EU-Kommission in Brüssel die Rufe nach einer Auflösung zurück. Die Kommission ist der Auffassung, dass die Agentur eine zentrale Rolle erfülle.
Die Agentur soll ab 2027 über eine ständige Reserve von 10.000 Einsatzkräften verfügen und sowohl stationär als auch ad-hoc in Mitgliedsstaaten präsent sein. Das Problem: Bis heute gibt es keine rechtliche Regelung, die Beamt:innen einer EU-Agentur das Tragen von Schusswaffen erlaubt. Allein im Budget für 2022 ist eine dreiviertel Milliarde vorgesehen. Leggeri war auf dem Weg, Frontex zu einer Grenzschutzagentur der Superlative zu machen. Und dieser Weg soll anscheinend weiter beschritten werden. Es offenbart sich ebenjenes Spannungsverhältnis, das seit Gründung der Agentur besteht. Eine glaubhafte Menschenrechtspolitik ist unvereinbar mit der genuinen Aufgabe von Frontex: dem Schutz der Außengrenzen – und damit die Begrenzung von Migration.
Innere Widersprüche
Die Kompetenzen der Agentur wurden seit 2004 schrittweise erweitert. Durch das Design der Agentur gelang es dabei, einerseits den Mitgliedsstaaten eine starke Rolle zuzusprechen und andererseits fungierte Frontex als ein Europäisierungsmotor im Bereich der Grenzkontrollen. Durch die Skandale der letzten Jahre fordern viele Politiker:innen eine Reform von Frontex. Doch es lässt sich daran zweifeln, dass Grenzschutz humanisiert werden kann.
„Frontex entrechtet Migrierende systematisch und sichert darüber hinaus die imperialen Lebensweisen der EU ab.“
Frontex entrechtet Migrierende systematisch und sichert darüber hinaus die imperialen Lebensweisen der EU ab. Gerade aus dem Charakter einer Agentur entsteht nicht nur demokratietheoretisch ein Problem. Denn es entsteht ein staatlicher Apparat, der kaum demokratisch kontrollierbar ist. Nein, auch eine bessere demokratische Einhegung dieses Apparates Frontex führt nicht zwangsläufig zu einer anderen Politik. Die strukturelle Verankerung von kolonial geprägten Grenzen in globalen Ungerechtigkeitsverhältnissen lässt sich nicht einfach mit einem besseren Management und demokratischer Kontrolle lösen. Aus diesem Grund muss eine Kritik, die auch Substanz hat, mit der Frage der Abschaffung von Grenzkontrollen verbunden sein. Ja, auch um die demokratische Einhegung muss gekämpft werden, aber auch die Herrschaftsverhältnisse dahinter dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Meinung
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