Arrival-City
Duisburger Marxloh – Ein Stadtteil, um anzukommen
Der Duisburger Stadtteil Marxloh soll eine Ankunftsstadt werden. Dafür setzt sich der dort lebende Lokalpolitiker Claus Lindner ein. Was das bedeutet, lässt sich schon heute vor Ort beobachten. Ein Streifzug durch Marxloh.
Von David Huth Montag, 16.05.2022, 21:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 16.05.2022, 16:07 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Claus Lindner läuft die Weseler Straße entlang. Passanten grüßen ihn. Manche verwickeln ihn in ein Gespräch. Der großgewachsene Mann ist bekannt in Marxloh. Als Lokalpolitiker engagiert er sich seit Jahren für die Menschen vor Ort. Er ist ein typischer Kümmerer, der die Probleme vor seiner Haustür kennt. Selbst lebt er nur einen Steinwurf von der belebten Weseler Straße entfernt. Dass Marxloh immer wieder mit Begriffen wie „Brennpunktstadtteil“ oder „No-Go-Area“ diffamiert wird, das stört ihn. Deshalb engagiert er sich seit Jahren dafür, dass in seinem Heimatstadtteil das Konzept des Ankunftsstadtteil realisiert wird.
In dem Stadtteil im Duisburger Norden leben Menschen aus 92 verschiedenen Nationen zusammen. „Wir sehen häufig ein Problem darin, wenn viele Menschen aus anderen Staaten nach Deutschland kommen. Der Ankunftsstadtteil sucht hingegen das Potential dieser Menschen“, sagt Claus Lindner.
Die Idee einer „Ankunftsstadt“ geht auf den Journalisten Doug Saunders zurück. 2011 erschien sein Buch „Arrival City: How the largest Migration in History is Reshaping Our World“. Seitdem wurde es auf kommunaler Ebene von diversen Entscheidungsträgern wie etwa in Offenbach und Hanau als Blaupause für Integrationskonzepte übernommen.
Politik hat entschieden
Mitte Juli 2021 hat die Bezirksvertretung Hamborn, die auch für Marxloh zuständig ist, entschieden, dass der Stadtteil eine „Arrival City“ werden soll. Claus Lindner will mit dem Antrag das Rad nicht neu erfunden wissen, sondern das Bestehende besser aufeinander abstimmen. Das soll ein Lenkungskreis aus Politik und Verwaltung übernehmen.
Marxloh befindet sich seit 1996 in diversen Fördermaßnahmen. Insgesamt sind in dieser Zeit fast 120 Millionen Euro in den Stadtteil geflossen. So gibt es in Marxloh viele Projekte und soziale Einrichtungen, die das Leben der Menschen verbessern und ihnen helfen wollen. „Trotz dieses erheblichen Engagements ist festzustellen, dass sich der Stadtteil regelmäßig durch äußere Umstände immer wieder destabilisiert und neu stabilisiert werden muss“, heißt es im Antrag der Bezirksvertretung Hamborn.
Entstehende Lücken beseitigen
Für den Lokalpolitiker liegt das Problem darin, dass immer wieder neue Maßnahmen für neue Problemlagen aufgelegt werden. „Dadurch entstehen automatisch Lücken, wenn eine neue Situation entsteht, bei denen bestehende Maßnahmen nur eingeschränkt oder gar nicht greifen“, so Lindner. Der Stadtteil brauche also ein Gesamtkonzept, um schnell und flexibel auf neue Situationen reagieren zu können – die „Arrival City“.
Lindner nennt ein Beispiel: Fast alle Integrationsprojekte seit 1996 bauten darauf auf, dass neu ankommende Menschen mindestens Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder dem Sozialgesetzbuch erhielten. Das sei auch Bedingung, um an einem Integrationskurs teilzunehmen. Die Menschen, die seit einigen Jahren aus Südosteuropa nach Duisburg kommen, fallen hier, laut Lindner aber durch das Raster. „Oberste Priorität hat es deswegen, Menschen schnellstmöglich durch eigene Arbeit den Zugang zu weiteren Integrationsmaßnahmen zu ermöglichen“, sagt Lindner.
Konflikten begegnen
Besonders wichtig sind Lindner zudem ein friedliches Zusammenleben in Marxloh und der Aspekt Sicherheit. „Wo viele verschiedene Menschen zusammenkommen, da gibt es auch kulturelle Konflikte“, sagt Lindner: „Wer das leugnet, der hat wenig Bezug zur Realität in einem solchen Stadtteil“. Deswegen seien abgestimmte Maßnahmen so wichtig, um schnell auf Konflikte und Straftaten reagieren zu können.
Vorbild ist für Lindner hier das Konzept in der belgischen Stadt Mechelen. Mehr Polizei. Überwachungskameras. Gespräche mit den Menschen vor Ort. Geld für Prävention. Das sind die Stichworte, mit denen sich der belgische Ansatz umschreiben lässt – und er hat Erfolg gezeigt. „Nur wenn sich alle Menschen in einem Stadtteil heimisch, sicher und angenommen fühlen, kann Integration gelingen“, davon ist Lindner überzeugt.
Die internationalen Klassen
Bereits heute existieren viele Ansätze, die für Claus Lindner einen Ankunftsstadtteil ausmachen. Da ist zum Beispiel das Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium, wo er selbst einmal zur Schule gegangen ist. Seit dem Schuljahr 2015/16 gibt es an der Marxloher Schule die „internationalen Förderklassen“. In drei Klassen werden dort 51 Schüler unterrichtet. Sie stammen vor allem aus Südosteuropa und aus dem arabischen Raum. Das Ziel lautet: Die Schüler sollen die deutsche Sprache so gut beherrschen, dass sie spätestens nach zwei Jahren in eine normale Klasse wechseln oder eine Ausbildung beginnen können.
Die 14-jährige Keso Babilodze etwa besucht eine solche Klasse. Sie stammt aus Georgien und kam vor drei Jahren nach Deutschland. „Es war am Anfang schwer, hier in Duisburg anzukommen“, sagt die Schülerin. Ihr war dabei von Anfang klar, dass der Weg zur Integration nur über die Sprache funktioniert. „Deswegen habe ich versucht, jeden Tag etwas Neues dazuzulernen.“ Als sie nach sechs Monaten endlich eine Schule in Deutschland besuchen konnte, kam sie auf eine Hauptschule. Wohl fühlte sie sich dort nicht. „Die Kinder waren nicht so nett“, sagt sie. Die Schulleitung schickte sie dann nach Marxloh – zum Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium. Hier blühte das Mädchen dann auf. Die internationale Klasse konnte sie schnell verlassen und am Regelunterricht teilnehmen. Auf dem Gymnasium will sie bleiben und ihr Abitur machen. Danach möchte sie studieren. Was, das weiß sie noch nicht genau. Vielleicht Psychologie, vielleicht aber auch Kunst oder Politik.
Ahmad Jarboa besuchte ebenfalls eine der internationalen Klassen. Der 18-Jährige flüchtete 2015 mit seiner Mutter und seinen Brüdern aus Syrien nach Deutschland. Sein Vater starb im Bürgerkrieg. „Deutsch habe ich erst gelernt, als ich hier war“, erzählt er. Am Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium machte man ihn dann fit für den normalen Unterricht. Heute besucht er die August-Thyssen-Realschule. Später will er vielleicht Polizist werden oder etwas mit Informatik machen. „Das weiß ich noch nicht genau“, sagt er, „aber auf jeden Fall sowas in der Art.“ Auf die Frage, ob er in Deutschland angekommen ist, antwortet er mit einem klaren: „Ja“.
Von kleinen Läden und großen Boutiquen
Es sind zwei Erfolgsgeschichten, die unterstreichen, was Claus Lindner mit einem Ankunftsstadtteil meint. „Es geht immer darum, zu gucken, was die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen sind, die zu uns kommen, und daran erfolgreiche Integrationsmaßnahmen auszurichten“, sagt Claus Lindner.
Bildung ist hier ein Baustein. Wie Menschen, die nach Deutschland kommen, ihren Lebensunterhalt verdienen können, ist ein anderer. Dabei geht es Claus Lindner auch darum, die Perspektive auf bestimmte Dinge zu verändern und nennt ein Beispiel: „Wir beschweren uns aktuell zum Beispiel zu Recht über wilde Händler, die in Marxloh aus dem Kofferraum heraus Wurst verkaufen, oder Autos am Straßenrand reparieren“, erzählt er. Was für viele ein Problem ist, das beseitigt werden müsse, wirft für Lindner die Frage auf, ob der Mensch sein Handeln in dieser Situation als normal empfinde. Seine Antwort: „Ja, viele Menschen, die zuwandern, wollen erstmal einen kleinen Laden aufmachen.“ Deshalb hält er es für so wichtig, solche Dinge nicht per se als Problem zu begreifen, sondern als Chance, und sich zu überlegen, wie sie sich in geordnete Bahnen bringen lässt. Für die heute noch wilden Händler etwa könnten günstige, leerstehende Ladenlokale in B- und C-Lagen der erste Schritt in eine erfolgreiche Selbständigkeit sein. „Davon gibt es in Marxloh reichlich – nur müssen sie niederschwellig vermarktet werden“, sagt Lindner.
Überall dort, wo Zuwanderer konzentriert ankommen, versuchen sie aufzusteigen, scheitern manchmal, aber schaffen es auch, ziehen dann in andere Stadtteile oder bilden vor Ort die neue Mittelschicht. Auch das ist in Marxloh zu beobachten. Die Brautmodenmeile an der Weseler Straße zeigt, wie Aufstieg funktionieren kann. Davon weiß Elisey Mihaylov zu berichten. Der 21-jährige Bulgare arbeitet im Herrenmoden-Geschäft Yargıç als Verkäufer.
Mit seiner Attitüde würde er auch an die Savile Row in London passen. Die Straße ist bekannt für seine Herrenausstatter. Und die Marxloher Brautmodenmeile arbeitet daran, ähnlich bekannt zu werden. „Wir haben hier mittlerweile Kunden aus ganz Europa“, sagt Elisey Mihaylov. Die kommen aus Spanien, Italien, Frankreich, Belgien oder auch Norwegen. Allein Yargıç betreibt vier Geschäfte in Marxloh, zwei Läden für Herrenmode, eines für Damenbekleidung und eine Schneiderei. Mittlerweile gibt es rund 60 solcher Geschäfte in Marxloh. Neben den Boutiquen dominieren Juweliere, Schuhgeschäfte, Hauswarenläden sowie Restaurants und Cafés das Straßenbild.
Integration durch Arbeit
„Im Grunde sind wir heute wieder dort, wo Marxloh bereits vor 50 Jahren stand“, sagt Claus Lindner zu der Entwicklung an der Weseler Straße, „nur unter einer anderen Kultur.“ Früher galt Marxloh als beliebter Ort zum Einkaufen für das gesamte Umland.
Integration durch Arbeit ist auch der Ansatz, dem die Duisburger Werkkiste seit nun mehr als 40 Jahren folgt. Die katholische Jugendberufshilfe setzt an der Schnittstelle zwischen Schule und Beruf an. Das Angebot der Werkkiste ist breit gestreut. Es reicht von der Berufsorientierung in der Schule über die Unterstützung bei der Ausbildung bis hin zur Beratung von Familien, um Kindern und Eltern bei alltäglichen Angelegenheiten zu helfen. „Es geht uns darum, den Menschen eine Perspektive aufzuzeigen“, sagt Lena Richter, Bereichsleiterin der Duisburger Werkkiste, „dabei ist die Netzwerkarbeit für uns von großer Bedeutung.“
Deswegen engagiert sich Lena Richter unter anderem im Marxloh Forum als Sprecherin. Dort ist auch Claus Lindner aktiv. Das Forum ist eine Plattform, bei der sich die Menschen aus dem Stadtteil austauschen. So tauscht sich die Werkkiste nicht nur mit Schulen und Unternehmen aus, sondern auch mit anderen sozialen Einrichtungen in Marxloh. Die einzelnen Bausteine wie Jugendberufshilfe etwa isoliert zu betrachten, hilft einem Quartier wie Marxloh nicht in Gänze weiter, wie Lena Richter findet: „Wir überlegen uns deshalb immer, was für den sozialen Raum insgesamt gut ist.“
Es ist genau jener Weg, den Claus Lindner mit dem Ankunftsstadtteil noch weiter beschreiten will. Die einzelnen Rädchen im sozialen und gesellschaftlichen Getriebe in Marxloh sollen noch stärker ineinandergreifen, um den Menschen von überallher die Chance zu geben, hier anzukommen und sich in den Stadtteil positiv einzubringen. „Das ist letztendlich wichtig für die gesamte Stadt und das gesamte Land“. Leitartikel Panorama
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