Weltkunstausstellung
Die documenta präsentiert sich bunt, politisch und überraschend
Die erstmals von einem Künstlerkollektiv aus Asien geleitete documenta überrascht durch politisches Engagement, Buntheit und Fantasie. Zu sehen und zu hören sind Geräusche aus dem Slum oder Häuser aus Altkleidern und Elektroschrott - exportierter Müll aus Europa.
Von Christian Prüfer Sonntag, 19.06.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 19.06.2022, 13:16 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die am 18. Juni startende Weltkunstausstellung „documenta fifteen“ sei ein künstlerischer Gegenentwurf zur westlichen Vorstellung von Kunstausstellungen. Das zumindest meint die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn (Grüne). In der Tat ist der erste Eindruck im Fridericianum, normalerweise das Zentrum der alle fünf Jahre stattfindenden Ausstellung, ernüchternd. Riesige Wandzeitungen, Werkstätten, Bücher, Plunder und ein Spielplatz für Kinder – so hat sich der westliche Besucher Kunst eher nicht vorgestellt.
Die neunköpfige indonesische Künstlergruppe Ruangrupa, die die „documenta fifteen“ verantwortet, hat das ehrwürdige Fridericianum zur „Fridskul“, also einer Schule, umfunktioniert. Dort wird nun vor allem politische Bildungsarbeit betrieben, zu Themen wie Rassismus über die Unterdrückung der Sinti und Roma bis hin zu Frauenrechten.
Zauberwort „Lumbung“
„Lumbung“ ist das allgegenwärtige Zauberwort der documenta fifteen. Es bezeichnet eine gemeinschaftlich benutzte Reisscheune in Indonesien, in die alle ihre Ernte einbringen und zum Wohle der Gemeinschaft lagern. Ähnlich soll es im übertragenen Sinne auch in der Kunst funktionieren, so die Vorstellung von Ruangrupa.
Wer allerdings als Besucher die englische Sprache nicht in die „Scheune“ einbringen kann, wird es mitunter etwas schwer haben. So manche Erklärung zu Künstlern und Kunstwerken gibt es nur in Englisch, bisweilen fehlen Texte (noch) komplett. Weiterhelfen kann hier das gute – käuflich zu erwerbende – Handbuch.
Antisemitismus-Debatte
So ist es etwa auch im Ausstellungsort WH22, einem ehemaligen Techno-Tanzclub, wo die palästinensische Gruppe „The Question of founding“ ihre Werke zeigt. Die Palästinenser gerieten Anfang des Jahres durch einen Blogeintrag einer kleinen politischen Initiative aus Kassel zu Unrecht unter den Generalverdacht des Antisemitismus, den die documenta bis heute nicht losgeworden ist. Einige wenige der ausgestellten Bilder, die im Goya-Stil kriegerische israelische Soldaten mit palästinensischen Zivilisten zeigen, können als kritisch gegenüber dem Staat Israel beurteilt werden, aber antisemitisch ist hier nichts.
Ebenfalls im WH22: ein schön angelegter „Immigrating garden“ (Einwanderungsgarten) des vietnamesischen „Nha San Collectives“ um Tuan Mami, der darauf hinweisen will, wie wichtig diese Pflanzen und Gewürze für die vietnamesischen Immigranten sind. Im ehemaligen Hallenbad Ost zeigt die Künstlergruppe „Taring Padi“ über 100 Kunstwerke aus den vergangenen 22 Jahren, teilweise recht großformatige Banner, auf denen auch Texte in indonesischer Sprache zu sehen sind. Inhalt dieser Protestkultur der 1998 gegründeten Gruppe ist der Kampf indonesischer Arbeiter für ihre Rechte.
Stimmen und Geräuschen aus dem Slum
Fast schon ein wenig spektakulär ist der Eintritt in die documenta-Halle, die von der kenianischen Gruppe „Wajukuu Art Project“ mit Wellblechen verhangen ist und an einen Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi erinnern soll. Durch ein Wellblechtor gelangt man in einen dunklen Raum, umgeben von Stimmen und Geräuschen aus dem Slum.
Im großen Saal findet sich unter anderem eine von der thailändischen Künstlerinitiative „Baan Norg Collaborative Arts and Culture“ errichtete Skateboard-Anlage, die von allen, die es können, benutzt werden darf. Faszinierend wirkt die Installation von „Britto Arts Trust“ aus Bangladesch, die einen kleinstädtischen Basar zeigt. Die Objekte sind Häkel-, Strick-, Keramik- und Metallerzeugnisse, oft verblüffend dem Original ähnlich. Auch die schon ikonographische Dose „Campbell’s Soup“, der Andy Warhol ein Denkmal setzte, ist mit von der Partie.
Müllexport“ in afrikanische Länder
In der Karlsaue steht ein von „The Nest Collective“ (Kenia) errichtetes Haus aus Altkleidern umgeben von Elektroschrott-Bündeln. In dessen Inneren wird in einem Video auf die verheerenden Wirkungen aufmerksam gemacht, die dieser „Müllexport“ für die afrikanischen Länder hat.
Schön anzusehen sind hingegen die „Floating Gardens“, die schwimmenden Gärten der slowakischen Künstlerin Ilona Nehmet auf der Fulda. Hier am gegenüberliegenden Ufer wird in einigen Wochen auch das am 3. Juni in Berlin aus einem umgedrehten Holzdach gebaute Boot „Citizenship“ erwartet, das gänzlich ohne fossile Energien durch Sonnenenergie und Muskelkraft nach 60 Tagen hier anlegen soll. Man darf gespannt sein. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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