Kultur-Reflexe
Interkulturelle Konfliktkompetenz in einer Migrationsgesellschaft
Warum das Erklärungsmuster „Kultur“ in Konfliktsituationen zwischen Mehr- und Minderheiten von Dominanzangehörigen oftmals reflexartig herangezogen wird und was dem entgegengesetzt werden kann.
Von Sarah Saf Mittwoch, 27.07.2022, 15:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 27.07.2022, 14:18 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Manche Schlagwörter nehmen innerhalb kurzer Zeit an Popularität zu. Interkulturelle Kompetenz ist seit 2015 eines davon; von der Bertelsmann Stiftung als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts betitelt.
Das Interesse an Fortbildungsveranstaltungen zur interkulturellen Kompetenz hat in meiner Wahrnehmung seit 2015 stark zugenommen – insbesondere in Verwaltungseinrichtungen und anderen Institutionen wie bspw. Jugendhilfeeinrichtungen und Ehrenamtsorganisationen. Bis nach einem folglich anwachsenden Fortbildungsangebot ein zunehmendes „Sättigungsgefühl“ einsetzte und der starke Wunsch nach einem anderen Fortbildungsthema aufkeimte: das Lösen von Konflikten zwischen Beteiligten „unterschiedlicher Kulturen“, kurz: interkulturelles Konfliktmanagement.
Der Managementbegriff wirkt nach meinem Empfinden recht technisch und suggeriert, mit etwas Organisationstalent ließen sich die passenden Puzzlestücke zusammenfügen und Konflikte folglich rasch auflösen. Für eine Konfliktlösung steht für mich vorrangig die Entwicklung von Kompetenzen für einen konstruktiven und nicht zerstörerischen Umgang mit Konflikten im Vordergrund. Konfliktkompetenzen sollen bestenfalls dazu führen, dass sich Individuen als konfliktfähig und –freudig wahrnehmen – nicht im Sinne einer Streitlust um des Streitens willen. Sondern gewillt und befähigt, Konflikten mutig, handlungsfähig und mit einer guten Portion Neugierde zu begegnen. Für das Zusammenleben in einer Migrationsgesellschaft sind ergänzend Kompetenzen gefragt, mit mehrheimischen Identitäten und „Normalitätsvorstellungen“ konstruktiv umzugehen und daneben den Einfluss von Narrativen, Machtasymmetrien, Anerkennungsfragen und Chancengleichheit in Kommunikations- und Konfliktsituationen mitzudenken.
„In spannungsgeladenen Interaktionen, die zwischen PoC´s und Angehörigen der Dominanzgesellschaft stattfinden, werden von Letzteren oftmals „kulturelle Differenzen“ als Spannungs- und Konfliktursache ausgemacht.“
In spannungsgeladenen Interaktionen, die zwischen PoC´s und Angehörigen der Dominanzgesellschaft stattfinden, werden von Letzteren oftmals „kulturelle Differenzen“ als Spannungs- und Konfliktursache ausgemacht. Dies ist eine verkürzte und reflexartige Erklärung und vor allem beliebt, wenn das Narrativ der „Inkompatibilität der Kulturen“ seine Wirkung entfaltet. Um mit vermeintlich „interkulturellen Konflikten“ konstruktiv umzugehen, braucht es vonseiten der Dominanzgesellschaft die Bereitschaft, Narrative zu hinterfragen, postmigrantische Perspektiven zuzulassen sowie die Offenheit, divergente Prägungen kennenzulernen und diese als gleichwertig anzuerkennen – kurz: interkulturelle Konfliktkompetenzen.
Teilnehmende, die aus intrinsischer Motivation heraus Fortbildungsveranstaltungen zur interkulturellen Konfliktkompetenz besuchen, zeigen in eigens geschilderten Fallbeispielen ein großes Interesse, diese in ihrer Ganzheit zu verstehen, neue Perspektiven kennenzulernen und Lösungen zu erarbeiten. Die Lösungen haben zum Ziel, nicht nur ihre, sondern auch die Interessen des Gegenübers zu verstehen. Praxisnahe Analysemethoden und reflexive Fragestellungen, die das verengte Blickfeld auf Kultur als Erklärungsmuster für Konflikte zu einem erweiterten Gesichtsfeld weiterentwickeln lassen, unterstützen dabei. Es werden hierbei insbesondere die konfliktträchtigen Einflüsse von Machtasymmetrien, Stereotypen und Kollektiverfahrungen erforscht, ergänzend die persönliche Situation des Individuums als beeinflussendes Verhalten analysiert und auf der Grundlage der Ergebnisse neue Lösungsschritte entwickelt.
Ein sich stets wiederholendes Fallbeispiel, das als eher „harmlos“ im Sinne einer Konfliktbeschreibung eingestuft werden kann, ist bspw. der Wunsch von Fachkräften, Eltern mit Einwanderungsbiografien stärker in den Kindergarten- und Schulalltag einzubeziehen. Fachkräfte berichten in den Seminaren, dass ihre Beteiligung an Elternabenden und –sprechtagen sowie an anderen Elternaktivitäten geringer ausfällt. Teilnehmende greifen zunächst meistens gewohnheitsmäßig auf das Erklärungsmuster „Kultur des Herkunftslandes“ zurück: Elternarbeit und Gespräche über Leistungen und „Entwicklungspotenziale“ einzelner Kinder seien wahrscheinlich in den Herkunftsländern nicht bekannt.
„Findet die Migration aus Kriegsgebieten wie Syrien und seit kurzem auch aus der Ukraine statt, so kommen weitere Umstände dazu, die eine Alltagsbewältigung erschweren und die sich Ein-Heimische nach über 70 Jahren Frieden kaum ausmalen können und vermutlich auch nicht wollen.“
In der größten migrantischen Einwanderungs„gruppe“, migrierte aus der Türkei, sind Elterngespräche über Einzelleistungen nicht weniger üblich als hier. Wenn sich migrantische Eltern in hiesigen Bildungseinrichtungen weniger einbringen, hat dies zumeist diverse Gründe außerhalb der sogenannten „Herkunftskultur“, welche sich mit etwaigen Analysemethoden und Fragestellungen erforschen lassen. Einige Gründe liegen zum Beispiel an der Situation, die durch Migrationsprozesse ausgelöst werden: Migration ist stets ein großer Kraftakt. Sich in einem neuen Land zurechtzufinden, bedeutet neben dem Spracherwerb und der Existenzsicherung das Erforschen und Verstehen eines völlig neuen Umfeldes mit unbekannten, teilweise nicht-sichtbaren Spielregeln. Das beginnt mit von Ein-Heimischen oft unbedachten, aber existenziellen Alltäglichkeiten: wie finde ich eine Wohnung auf dem erhitzten Immobilienmarkt, der mich als Einwanderer:in nachweislich systematisch benachteiligt? Wie funktioniert das öffentliche Verkehrssystem? Wie ist das Bildungssystem ausgerichtet? Wie das Gesundheitssystem? Ganz zu schweigen von sozialen Umgangsformen in den unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereichen – um nur einen kleinen Ausschnitt zu zeichnen. Findet die Migration aus Kriegsgebieten wie Syrien und seit kurzem auch aus der Ukraine statt, so kommen weitere Umstände dazu, die eine Alltagsbewältigung erschweren und die sich Ein-Heimische nach über 70 Jahren Frieden kaum ausmalen können und vermutlich auch nicht wollen.
Insbesondere die ersten Jahre nach der Migration bedürfen zusätzliche zeitliche und persönliche Ressourcen, die nicht-migrantischen Personen ganz selbstverständlich zur freien Verfügung stehen. Bestehen bleiben nach dem Erwerb bzw. Anstieg an Kenntnissen über die hiesigen Systeme, institutionelle und gesellschaftliche Machtasymmetrien und damit verbundene Ausgrenzungserfahrungen. Auch die Gleichwertigkeit und Anerkennung von Werten und Normalitätsvorstellungen sind durch die Verhältnisse von Dominierenden und Dominierten durchzogen; im institutionellen, öffentlichen sowie im privaten Raum und lösen sich nicht einfach nach den ersten Jahren der Migration auf.
Eine Fragestellung, die dies aufgreift und sich bspw. in Seminaren zur interkulturellen Öffnung von Bildungseinrichtungen oft wiederholt, lautet: Spiegeln sich die Vorstellungen von „guter Erziehung und Bildung“ von allen Eltern, ob ein-heimisch, (POC-)mehr-heimisch etc. in den Bildungseinrichtungen wider? Sind sie hinlänglich bekannt, werden sie als gleichwertig wahr- und ernstgenommen?
„Wenn sich kürzlich migrierte und/oder mehr-heimische Eltern also anteilig weniger in Bildungseinrichtungen einbringen als ein-heimische, lohnt sich ein differenzierter, dominanzkritischer und ggf. auch traumasensibler Blick auf die vielen Einflussfaktoren, die dem zugrunde liegen können… „
Die Entwicklungspsychologin Heidi Keller hat in vielen außereuropäischen Ländern über Bindungsverhalten und Erziehungsstile geforscht und beschreibt in einem Interview einen Konfliktpunkt, den migrierte Eltern aus kollektiv geprägten Ländern (sofern man analog von Kulturdimensionen einer binären Einteilung folgen mag) hier häufig erleben: In individualisierten Gesellschaften sollen Kinder frühzeitig lernen, eigene Entscheidungen zu treffen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört auch, dass Kinder oftmals selbständig herausfinden sollen, was sie spielen wollen, wenn sie sich langweilen, dass sie ihre Kleidung auch bei Schmuddelwetter selbst aussuchen – und eben die Konsequenzen tragen, wenn diese unpassend gewählt wurde. Eltern, die erwarten, dass Kinder stärkere, klare Vorgaben von Erwachsenen brauchen und sich dementsprechend mehr Anleitung von den ja immerhin ausgebildeten Fachkräften wünschen, finden sich in dem hier dominierenden Erziehungsideal oftmals nur bedingt wieder.
Dem Ausdruck zu verleihen, sich einzubringen als möglicherweise marginalisierte:r PoC, die sehr genau einschätzen kann, ob ihr Rückständigkeit und „Kulturlosigkeit“ nachgesagt wird, benötigt die Gewissheit, auch gesehen und anerkannt zu werden in den eigenen Bedürfnissen und dass diese nicht als störend abgewiesen werden. Wenn sich kürzlich migrierte und/oder mehr-heimische Eltern also anteilig weniger in Bildungseinrichtungen einbringen als ein-heimische, lohnt sich ein differenzierter, dominanzkritischer und ggf. auch traumasensibler Blick auf die vielen Einflussfaktoren, die dem zugrunde liegen können – um folglich Strukturen und Angebote zu schaffen, dieses Spannungsfeld aufzulösen.
Dazu benötigt es in einer Migrationsgesellschaft „interkulturelle Konfliktkompetenzen“: Den good will, individuellen und gesellschaftlichen Konflikten nicht nur aus einem Dominanzangehörigenblick konstruktiv lösen zu wollen; einhergehend mit Wissen um Narrative, Machtasymmetrien, Anerkennungsfragen, divergente und mehrheimische Prägungen und der persönlichen Situation von Individuen, statt einer Reduzierung auf „Kultur“ bzw. vermeintlicher „Kulturlosigkeit“. Meinung
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