Prof. Dr. Astrid Messerschmidt, Professor, Migration, Menschenrechte, Humanwisschenschaften, Sozialwissenschaften
Prof. Dr. Astrid Messerschmidt

documenta fifteen

Antisemitismus und Kunst

Worin geht es in dem Konflikt um antisemitische Elemente in der Kunst? Unschuld? Schließlich ist Unschuld hierzulande eine begehrte Position.

Von Donnerstag, 28.07.2022, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 28.07.2022, 13:56 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Nicht erst in ihrer fünfzehnten Ausgabe öffnet sich die documenta künstlerischen Positionen aus dem „globalen Süden“, eine Bezeichnung, die sich der realen Nord-Süd-Hierarchie zu entledigen beansprucht und diese doch nicht loswird. Steckt doch auch in dieser Wortwahl eine Reduktion von Komplexität und eine paternalistische Geste der Freundlichkeit gegenüber dem Teil der Welt, von dessen Ausbeutung viele in Europa profitieren und dessen reale Auswirkungen sich u.a. in den großen Fluchtbewegungen zeigen.

Die strukturelle globale Ungleichheit ist weltweit nicht zu übersehen. Doch daraus kann keine Verantwortungslosigkeit abgeleitet werden, so als seien alle, die von dieser Ungleichheit und den damit verbundenen politischen Gewaltverhältnissen betroffen sind, in einer unschuldigen Position. Denn um die Gewährung von Unschuld scheint es mir (neben anderen Aspekten) in dem Konflikt um antisemitische Elemente in der Kunst zu gehen. Schließlich ist Unschuld hierzulande eine begehrte Position, um deren Aufrechterhaltung man sich nach 1945 seit nunmehr vier Generationen bemüht und die es ermöglicht, mit einer verbrecherischen Vergangenheit abzuschließen und keine Verantwortung für deren Folgen übernehmen zu müssen.

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Dieser Abschluss wird neuerdings vermehrt von unerwarteter Seite beansprucht. Nicht mehr nur die üblichen alt- und neo-nationalistischen Kreise sympathisieren mit einem Schlussstrich, sondern diejenigen, die sich nun den Folgen des Kolonialismus zuwenden wollen und offensichtlich glauben, dafür eine Abwendung von der Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus zu benötigen. Schon länger kommt es in Teilen der politischen Bildung und in akademischen Debatten zu Konfrontationen zwischen postkolonialer Rassismuskritik auf der einen Seite und postnationalsozialistischer Antisemitismuskritik auf der anderen Seite. Beide Themenkomplexe werden in ein Konkurrenzverhältnis gebracht. Dabei wird die verspätete Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte im deutschsprachigen Kontext für eine erinnerungspolitische Revision genutzt.

„Die Globalisierung ermöglicht offensichtlich die weltweite Vermittlung antisemitischer Motive, selbst wenn diese aus der christlichen Judenfeindschaft kommen.“

Dass nun ein altes, europäisches, antisemitisches Motiv aus der Geschichte des christlichen Antijudaismus auf einem Kunstwerk einer indonesischen Künstlergruppe abgebildet ist, kann nur im ersten Moment erstaunen. Antisemitische Motive stehen schon lange global zur Verfügung. Sie werden aufgegriffen, weil die ideologische Struktur des Antisemitismus eine Täterfigur anbietet, auf die sich vieles projizieren lässt, was mit erfahrener Ungerechtigkeit und Ausbeutung in Verbindung steht. Diese Figur wird an verschiedenen Orten der Welt angeeignet, in diesem Fall mit einer mittelalterlichen europäischen Bildsprache, bei der die Künstler:innen offensichtlich davon ausgehen konnten, dass sie auch im indonesischen Kontext verstanden wird.

Deshalb kann es hier keineswegs darum gehen, Respekt für unterschiedliche Erfahrungsräume aufzubringen. Die Globalisierung ermöglicht offensichtlich die weltweite Vermittlung antisemitischer Motive, selbst wenn diese aus der christlichen Judenfeindschaft kommen. Wenn wir uns global als verantwortungsfähige Subjekte ernstnehmen wollen, dann sollten wir auch Künstler:innen weltweit zutrauen, ihre Kunst bewusst zu gestalten. Deshalb geht es hier weniger um Sensibilität, sondern um Intellektualität oder einfach darum, geschichtsbewusst zu denken und zu handeln. Im Kontext internationaler Kunstpräsentationen ist kuratorische Verantwortung zu übernehmen für die Botschaften der Kunstwerke und für deren Kontextualisierung.

Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg, das unter dem Dach von adis e.V. Antidiskriminierung – Empowerment -Praxisentwicklung organsiert ist. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa zwei Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik.

Der Historiker Volker Weiß hat kürzlich im Zusammenhang der documenta-Debatte darauf hingewiesen, „dass der Antisemitismus seine Dynamik gerade mit sozialer Demagogie gewinnt“1 und dafür ökonomische Problemlagen nutzt. Die ideologische Struktur des Antisemitismus bietet eine Täterfigur an, die in heutigen Gerechtigkeitsdebatten eingesetzt wird. Für Teile des antirassistischen Aktivismus wird diese Täterfigur mit dem Staat Israel identifiziert oder mit dem Jüdischen als Figuration von unrechtmäßigem Reichtum. Der Gewinn liegt in der Entlastung der eigenen Position. Die strukturelle Mitverantwortung für die globalen Ungleichheitsverhältnisse kann auf eine von sich selbst abgrenzbare und fremd wirkende Täterfigur projiziert werden.

Das Bewusstsein für die Geschichte und Wirkung der Shoah ist keine spezifisch deutsche Angelegenheit und konnte hierzulande nur durch das Engagement der Überlebenden gegen große Widerstände und viel Erinnerungsabwehr institutionalisiert werden. In einer globalisierten Welt kann von allen erwartet werden, die in der Öffentlichkeit stehen und sich öffentlich äußern, über ein Grundwissen hinsichtlich des Massenmordes an den europäischen Juden und Jüdinnen und der diesem zugrunde liegenden Vernichtungsabsicht zu verfügen.

Wie heute Verantwortung zu übernehmen ist für die Folgen von Nationalsozialismus und Kolonialismus, ist eine der großen Fragen unserer Zeit. Sie sollte nicht mit Kälte und Erinnerungsabwehr beantwortet werden. Vielmehr ist nach Formen zu suchen, die Spuren beider Geschichtszusammenhänge in der Gegenwart erkennbar machen und dabei die ideologischen Bestandteile von Rassismus und Antisemitismus verdeutlichen.

  1. „Antisemitismus und Kitsch“, Süddeutsche Zeitung Nr. 143, S. 11.
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