Wo ist Mazen?
15-jähriger auf der Flucht nach Europa entführt und gefoltert
Die Entführer von Mazen schickten ein verstörendes Foltervideo an seine Familie. Kein Einzelfall für Flüchtende in Libyen. Die Geschichte zeigt, wie die westliche Welt und ihre Hilfsorganisationen in Afrika versagen und warum die lebensgefährliche Flucht nach Europa für die Menschen oft der einzige Ausweg ist.
Von Sarah Spasiano Sonntag, 11.09.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 11.09.2022, 12:21 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die schlimmsten Befürchtungen seiner Familie und Freunde bestätigten sich, als ein Video auftaucht, das zeigt, wie der 15-jährige Mazen aus dem Sudan gefoltert und mit einem Gewehr bedroht wird. Auf dem Video sieht man, wie Mazen geschlagen wird, dann fragt ihn einer der Entführer „Wo ist das Geld?“ und als Mazen versichert, kein Geld zu haben, drückt der Entführer ab – doch das Gewehr ist offenbar nicht geladen. Bald darauf bricht das Video ab.
Tage zuvor war er spurlos aus Warshefana, einem Vorort von Tripolis, verschwunden. Jetzt soll die Familie ein Lösegeld bezahlen. Freunde der Familie suchen verzweifelt nach dem Jungen im von Bürgerkrieg gebeutelten Tripolis. Weder libysche Behörden, noch der UNHCR konnten Mazen schützen.
Einer von vielen
Mazen und seine Familie stammen aus Darfur im Sudan, das seit Jahrzehnten von einem brutalen Bürgerkrieg verwüstet wird. Nachdem die Mutter Opfer der Gewalt wurde, hat der Rest der Familie Darfur verlassen, um nach Europa zu kommen – denn Europa verspricht Sicherheit vor Bomben, Hunger, Völkermord und Gewalt. Doch der Weg dorthin führte die Familie, wie so viele andere Flüchtende, durch Libyen. Da es für die meisten Schutzsuchenden keine legalen Zugangswege nach Europa gibt, bleibt für viele der Weg durch Libyen und über das Mittelmeer die einzig mögliche Fluchtroute.
Mazens Familie lebte in Gargaresh, einem berüchtigten Stadtviertel von Tripolis, in dem viele Flüchtende Zuflucht suchten. Doch sie lebten auch dort in ständiger Gefahr, denn in Libyen schwelt ein Bürgerkrieg, in dem Flüchtende zu den meist gefährdeten Gruppen gehören. Erst kürzlich flammten in der Hauptstadt bewaffnete Konflikte auf, bei denen über 20 Zivilist:innen ums Leben kamen. Flüchtenden droht darüber hinaus ständig die Inhaftierung in eines der berüchtigten Haftlager, aus denen sich Berichte über inhumane Lebensbedingungen, sexualisierte Gewalt, Folter, Versklavung bis hin zu willkürlichen Tötungen häufen. Von deutschen Diplomaten wurde die Situation in den Haftlagern als „KZ-ähnlich“ beschrieben.
Menschenhändler, Milizenführer und Schlepper versuchen Profit zu schlagen aus der Schutzlosigkeit der Flüchtenden – Entführungen mit Lösegeldforderungen haben dabei System, wie viele Geflüchtete berichten. Wird das Lösegeld nicht bezahlt, droht Folter, Verstümmelung, Versklavung und Mord. Das Vorgehen ist brutal, da viele ihre Familien in Armut und extrem prekären Situationen zurücklassen mussten, die kaum in der Lage sind, das Lösegeld aufzubringen. Wegen dieser (Über-)Lebensumstände beschreiben Geflüchtete Libyen immer wieder als „Hölle auf Erden“.
Schutzlose mit Schutzstatus
Das sind auch die Lebensbedingungen für Mazen und seine Familie – dabei sollten sie nicht schutzlos sein, denn der UNHCR Libyen stufte sie als „Persons of Concern“ ein. Die Asylanträge haben sie bereits 2019 beim UNHCR-Büro in Libyen gestellt. Immer wieder machten sie die Behörde darauf aufmerksam, dass sie bedroht werden. Ihre Sorgen wurden nicht ernst genommen und auch nach drei Jahren noch nicht über ihre Anträge entschieden.
Der UNHCR ist mit dem Schutz von Flüchtlingen beauftragt, doch in Libyen ist der Flüchtlingsstatus nicht viel mehr als ein Blatt Papier. Von den fast 900.000 registrierten „Persons of Concern to UNHCR“ in Libyen wurden in diesem Jahr gerade einmal 734 Personen in Drittstaaten evakuiert. Die meisten bleiben angewiesen auf Schlepper und wählen den tödlichen Weg über das Mittelmeer, um der libyschen Hölle zu entkommen.
„Der UNHCR“, so David Yambio, Sprecher der Refugees in Libya und Freund von Mazen, „schafft in Libyen mehr Probleme, als er löst.“ Die Zusammenarbeit des UNHCR mit Milizen und Behörden verschleiert und legitimiert die Situation in Libyen. Und das hat Strategie: Die Zusammenarbeit europäischer Staaten mit der sogenannten libyschen Küstenwache und anderen Behörden soll Flüchtenden den Weg nach Europa abschneiden. Opfer dieser Strategie sind Flüchtende wie Mazen – jene, die am meisten Schutz benötigen.
Einsatz für Recht und Gerechtigkeit
Der UNHCR Libyen schützt Flüchtlinge weder vor Gewalt durch libysche Milizen, noch stellt die Agentur Unterkünfte, medizinische Versorgung oder Nahrungsmittel in ausreichendem Umfang zur Verfügung. Evakuierungen werden zwar oft versprochen, sind aber tatsächlich glückliche Einzelfälle. Aus diesen Gründen protestierten die „Refugees in Libya“ monatelang vor dem Büro des UNHCR in Tripolis. Sie fordern die Evakuierung aller Schutzsuchenden in ein sicheres Land, das Einhalten von Rechten, gerechte Behandlung durch den UNHCR und das Ende der Kooperation mit und Finanzierung von libyschen Milizen durch die Europäische Union.
Auch Mazen war dabei. Er war Teil der monatelangen Belagerung des UNHCR Büros, gemeinsam mit Hunderten Mitstreiter:innen und erhob seine Stimme für die Rechte von geflüchteten Menschen in Libyen. Auch er wurde am 10. Januar 2022 für sein politisches Engagement verhaftet und in das Haftlager Ain Zara gebracht. Der UNHCR setzte sich zwar für seine Freilassung ein, jedoch nur um die Familie dann schutz- und wohnungslos auf der Straße zurückzulassen. Mehr als 300 der Mitstreiter:innen befinden sich noch immer in Haft und kämpfen um ihr Überleben.
Einige Freunde und Mitstreiter aus den Protesten suchen unter hohem persönlichen Risiko nach Mazen. Libysche Sicherheitsbehörden unternehmen bisher keinen Versuch, ihn zu finden. Flüchtende, auch wenn sie einen UNHCR-Schutzstatus haben, sind in Libyen de facto rechtlos. Die Familie und ihr Umfeld werden weiter von den Entführern bedroht und unter Druck gesetzt. Sie setzt ihre Hoffnungen auf Freunde in Tripolis und öffentlichen Druck aus Europa.
Europas blutige Grenzen
Mazens Entführung und Folter sind eine Auswirkung der europäischen Abschottungspolitik. Dringend notwendige Evakuierungen von Flüchtenden werden nicht durchgeführt, stattdessen wird die sogenannte libysche Küstenwache mit europäischen Geldern finanziert. Menschenrechtsorganisationen protestieren schon seit Langem gegen die Zusammenarbeit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten mit Libyen. Insbesondere Italien unterstützt die Küstenwache mit militärischer Ausrüstung und finanziellen Mitteln, um brutale und illegale Rückführungen zu ermöglichen. Im November wird das neu gewählte italienische Parlament über die Fortführung oder Beendigung der Zusammenarbeit entscheiden müssen. In ganz Europa werden bereits Proteste dagegen laut.
Kein Mensch – und besonders keine Kinder und Jugendlichen wie Mazen – sollten die furchtbaren Lebensbedingungen in Libyen ertragen müssen. Europa muss endlich Verantwortung dafür übernehmen, welche blutigen Auswirkungen die Abschottungspolitik auf Schutzsuchende und Migrant:innen hat. Die Instrumente gibt es: humanitäre Korridore, Resettlement und das Ende der Finanzierung von libyschen Milizen. Jetzt ist die Zeit, sie anzuwenden. Leitartikel Panorama
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