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Mulmiges Gefühl

Eine Reise zum Sonnenblumenhaus in Rostock Lichtenhagen

Während einer Städtereise im Norden Deutschlands vor zwei Jahren besuchte Nima Mehrabi auch das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. Seine in Textform gegossenen Eindrücke vervollständigte er jetzt, im 30. Jahr nach dem rechtsradikalen Pogrom. Ein Reisebericht.

Von Donnerstag, 15.09.2022, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 16.09.2022, 6:22 Uhr Lesedauer: 18 Minuten  |  

Die vorliegenden Zeilen habe ich zu schreiben begonnen, während ich mich Ende Mai 2020 auf dem Rückweg von meiner Norddeutschlandreise in Richtung Köln befand. Diese Reise hatte ich im Rahmen meines noch immer nicht vollendeten Vorhabens unternommen, im Laufe der Jahre die hundert größten Städte Deutschlands und weitere relevante Orte der Bundesrepublik zu besuchen. Damals bereiste ich die Städte Kiel, Lübeck, Wismar, Schwerin und Rostock. In der letztgenannten Stadt nutzte ich die Gelegenheit, einen Abstecher zum bekannten Sonnenblumenhaus im Rostocker Brennpunktstadtteil Lichtenhagen zu wagen. Dieser Abstecher war es auch, der mich damals veranlasste, im verspäteten ICE von Hamburg nach Köln die eingangs erwähnten Zeilen zu beginnen. Für die letztendliche Fertigstellung und Veröffentlichung des Textes habe ich einen günstigen Zeitpunkt abgewartet, der mir im 30. Jahr nach dem rechtsradikalen Pogrom von Lichtenhagen mehr als gekommen erscheint.

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Dies, weil viele der heute unter 30-Jährigen mit dem Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen nicht mehr viel anfangen können, sie wissen kaum mehr etwas von der Situation, die Anfang der 1990er Jahre in Deutschland vorherrschte. Es besteht die Gefahr, dass Solingen, Mölln, Hoyerswerda und auch Rostock allmählich in die Vergessenheit geraten. Darum ist es auch so wichtig, diese Geschehnisse immer wieder in Erinnerung zu rufen, so dass sie nicht allzu leichtfertig aus dem Kollektivgedächtnis dieser Nation entschwinden, die Erinnerungen dazu nicht frühzeitig verblassen, auch künftige Generationen darüber im Bilde bleiben. Vor allem die Erinnerung an Rostock-Lichtenhagen muss hierbei eine große Rolle spielen, handelt es sich hierbei schließlich um das womöglich größte fremdenfeindliche Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte, auch wenn es – anders als in Mölln und Solingen – keine Todesopfer gab.

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„Das gemeine Volk wurde zum Publikum, das seine menschenverachtenden Helden zur Ausräucherung von Menschenleben anstachelte. Ein Geist, von dem man glaubte, dass er in Deutschland Geschichte geworden sei.“

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Denn als man damals im August 1992 über mehrere Tage hinweg darauf abzielte, über einhundert Vietnamesen – darunter Schwangere und Kinder – am lebendigen Leib zu verbrennen, war da kein Einzelgänger zugange und auch keine eingeschworene geheime Tätergruppe, wie es später beim NSU der Fall sein sollte. Es waren vielmehr hunderte Angreifer, die ihre Taten offen und schamlos vollführten und Tausende (!), die ihnen jubelnd und grölend zur Seite standen. Das gemeine Volk wurde zum Publikum, das seine menschenverachtenden Helden zur Ausräucherung von Menschenleben anstachelte. Ein Geist, von dem man glaubte, dass er in Deutschland Geschichte geworden sei, der es aber geschafft hatte, in den versteckten Ritzen der Volksseele Zuflucht zu finden, so dass er hier und da – wenn ihm die Gelegenheit dazu geboten wurde – zum Vorschein treten konnte, sich manchmal auch heute noch blicken lässt.

Dies war auch der Grund, warum ich – der ich bei meinen Reisen ohnehin auch viel abseits der üblichen Touristenpfade zu wandern pflege – unbedingt an diesen Ort musste, war dies vielleicht unbewusst mein eigentlicher Motivationsgrund, dass ich gen Norden gereist war und nicht in Richtung anderer Landesteile, die noch von mir erkundet werden woll(t)en. Denn ich wollte wissen, ob gewisse Überbleibsel des Geistes von 1992 dort noch heute aufgespürt werden können, ob ich eine Atmosphäre antreffen würde, die mir ein weiteres Puzzleteil liefern könnte, um dieses Land, in das ich geboren wurde, besser zu verstehen. Hatte ich doch hierfür – von meinem Germanistik-Studium bis hin zu meinem genannten 100-Städte-Projekt – auch sonst nichts unversucht gelassen.

Schließlich bin ich hier selbst als Flüchtlingskind auf die Welt gekommen, habe ich mehr als ein Dutzend meiner ersten Lebensmonate in Asylunterkünften verbracht, weise ich mit meinem olivfarbenen Hautton und der Mischung aus west- und zentralasiatischen Gesichtszügen genau jene migrantischen Marker auf, die mir das Potential verleihen, auch noch heute in manchen Regionen Deutschlands die Geister der 1990er-Jahre zu wecken. Darum war ich nun auch bereit, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und mit Zwischenaufenthalten in weiteren Städten – die mir vordergründig als Reisevorwand dienen sollten – in eine ganze 600 Kilometer von meiner Heimatstadt entfernte Hochhaussiedlung zu fahren, die ich bis dahin lediglich aus Fernsehdokumentationen kannte und die sicherlich für äußerlich erkennbare Migranten(nachkommen) kein gängiges Ausflugsziel darstellt. Denn ich will dieses Land mit all seinen Ecken und Kanten erleben, muss ich hierfür meine Komfortzone verlassen, war ich hierfür auch schon vor Rostock bspw. an Orten wie dem Chemnitzer Sonnenberg und auch danach erst vor einigen Monaten in den östlichsten Bezirken von Berlin.

Ich möchte bereits an dieser Stelle vorwegnehmen, dass das Klima, das ich in Lichtenhagen vorfand, sich von all den anderen Orten, die ich bisher in Deutschland besucht habe, merklich unterschieden hat. Zwar ist mir dort nichts konkret Negatives zugestoßen, war ich aber auch nur einige Stunden dort, während es draußen auch noch hell war. Dass dieser Eindruck mehr ist als ein bloßes Gefühl, kann man unter anderem in einem Geo-Artikel des Journalisten Christoph Dorner nachlesen, der Anfang 2017 ganze drei Monate in Lichtenhagen verbracht hatte, um die Stimmung dort einzufangen. In diesem Artikel berichtet er von einer rechten Kneipe, in der er bereits am ersten Abend seines Aufenthalts von einem Betrunkenen einen Hitlergruß gezeigt bekommt. Einen Gruß, den am 25.08.2022 – wie es kurz danach überall durch die Medien gehen sollte – auch ein Minderjähriger während einer Liveschalte anlässlich des 30. Gedenktages zu den Ereignissen von Lichtenhagen hinter dem nichtsahnenden Reporter in die laufende Kamera zeigte. Erst kurz zuvor war während derselben Schalte der Freund des genannten Jugendlichen in das Bild getreten. Er trug einen charakteristischen Seitenscheitel samt Zweifingerschnurrbart.

Bereits bei der Ankunft am Rostocker Hauptbahnhof und während der ersten Stunden, in denen ich die Innenstadt und Sehenswürdigkeiten der Hansestadt erkundete, fiel mir auf, dass das Publikum dort ein wenig anders ist, als ich es bis dahin in anderen Teilen Deutschlands erlebt hatte. So bemerkte ich – es war sicher keine Einbildung, da es zu offensichtlich war – dass ich regelrecht angestarrt wurde, ich immer wieder skeptisch musternde Blicke zugeworfen bekam. Eine Atmosphäre, für die ich bereits in Schwerin einen leichten Vorgeschmack bekommen hatte, und die mir nun wiederum eine Vorahnung gab, was mich in Lichtenhagen erwarten würde.  Schließlich würde ich dort nicht durch eine gemütliche Innenstadt, sondern durch einen sozialen Brennpunkt laufen, wo man vor drei Jahrzehnten Vietnamesen brennen sehen wollte, weil sie Vietnamesen waren.

„Das Interessante in diesem Zusammenhang ist, dass ich in Rostock weitaus mehr Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund zu sehen bekam, als ich es mir vor meinem Aufenthalt dort erwartet hätte.“

Das Interessante in diesem Zusammenhang ist, dass ich in Rostock weitaus mehr Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund zu sehen bekam, als ich es mir vor meinem Aufenthalt dort erwartet hätte. Bereits bei meiner Ankunft sah ich in einer Bäckerei in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofes eine Frau mit Kopftuch arbeiten. Auch erblickte ich bei meinen ersten Streifzügen durch die Stadt auf Anhieb mehrere Friseurläden, Imbisse und weitere Läden, die zweifellos Besitzer mit ausländischen Wurzeln hatten. Beobachtungen, die auch vom neuesten statistischen Jahrbuch der Hansestadt bestätigt werden: So lebten Ende 2019 über 22.000 Menschen mit dem berüchtigten Hintergrund in der 210.000-Einwohner-Stadt, was einen Anteil ergibt, der zwar weitaus niedriger ist, als wir es aus westdeutschen Städten kennen, der aber nicht übersehen werden kann. Umso ungewöhnlicher waren im Angesicht dessen die vielen Blicke, denen ich ausgesetzt war. Ich kann sie mir lediglich mit meinem Vollbart erklären, der in Kombination mit meinen orientalischen Gesichtszügen ein Erscheinungsbild ergibt, dem man in Rostock womöglich seltener begegnet.

Nachdem ich die wichtigsten Sehenswürdigkeiten und die Innenstadt von Rostock erkundet und einen ersten Eindruck von der Stadt gewonnen hatte, war ich nun bereit nach Lichtenhagen aufzubrechen. Normalerweise gehört es zu meinem Reisestil, dass ich die Strecken in einer Stadt zu Fuß zurücklege, auf Bus und Bahn zu verzichten versuche, so dass ich auf täglich zwanzig, dreißig oder sogar mehr Kilometer komme. Dies, damit ich von meinem Aufenthaltsort so viel wie möglich erlebe, so viele Fußabdrücke wie möglich hinterlasse, mir die Möglichkeit gegeben wird, ein wenig vom jeweiligen Städtealltag aufzuschnappen. Da aber Lichtenhagen über zwölf Kilometer von der Rostocker Innenstadt entfernt liegt und ich es mir nicht leisten konnte, so viel Zeit zu verlieren, blieb mir nichts anderes übrig, als die Straßenbahn aufzusuchen. Dies war mir vielleicht aber auch ganz Recht, da ich nach nur einigen Stunden in dieser mir noch nicht ganz geheueren Stadt nicht unbedingt durch dünn besiedelte Gebiete laufen wollte, die ich laut Google Maps hätte durchqueren müssen, um an mein Ziel zu gelangen. Also ging ich zur Haltestelle „Kröperliner Tor“, um dort in die Straßenbahn zu steigen.

„Nachdem ich etwa die Hälfte der Fahrtzeit hinter mir hatte, nahm allmählich die Anzahl jener Personen in der Straßenbahn zu, für die ich keine Hand ins Feuer legen würde, dass sie nicht mal gerne mit einem vollbärtigen Muselmanen die berühmte Bordsteinkantenszene aus „American History X“ nachspielen würden.“

Meine Fahrt nach Lichtenhagen sollte ganze vierzig Minuten dauern und nachdem die Tram den Innenstadtbereich Rostock verlassen hatte, merkte ich auch schon deutlich, je näher ich meiner Zielstation kam. Mir geht es an dieser Stelle nämlich auch gar nicht darum, den tollkühnen Helden zu mimen, hatte ich wirklich Respekt vor meinem Vorhaben, und mein Respekt stieg mit jeder Station. Denn ich bin alt und erfahren genug, um zu wissen, dass all die Kung-Fu-Filme eben nur Filme sind, ein Einzelner kaum etwas gegen Mehrere ausrichten kann, man zudem bei potentiellem Waffengebrauch generell chancenlos ist. Und sagen wir es mal so: nachdem ich etwa die Hälfte der Fahrtzeit hinter mir hatte, nahm allmählich die Anzahl jener Personen in der Straßenbahn zu, für die ich keine Hand ins Feuer legen würde, dass sie nicht mal gerne mit einem vollbärtigen Muselmanen die berühmte Bordsteinkantenszene aus „American History X“ nachspielen würden.

Hierbei darf man sich die entsprechenden Personen allerdings nicht so vorstellen, wie man sich Rechtsradikale klischeeweise eben vorstellt. Ich habe niemanden mit Springerstiefeln, Stiernacken und Glatze gesehen, trug keiner von ihnen irgendwelche Kleidungsstücke mit den bekannten Chiffren, keine 88 und auch kein doppeltes „H“. Man erkennt sie aber trotzdem, haben sie eine gewisse Weise sich zu kleiden, eine bestimmte Art aufzutreten, von allem ihre Gesichtsausdrücke, mit denen sie sich von anderen Menschen unterscheiden. Es war eine Menschensorte, die mir auch nicht unter den Rostockern aufgefallen war, die ich zuvor in der Innenstadt gesehen hatte. Leere Blicke, die von einem Hauch von hämisch-perspektivloser Mimik begleitet wurden. Ein überselbstbewusstes Auftreten gemischt mit einer merklichen Unsicherheit, als würden sie sich im Lande ihrer Vorväter selbst ein wenig fehl am Platze fühlen.

„Ich begann nun jedenfalls das zu machen, was Menschen migrantischen Aussehens in solchen Situationen immer machen: Ich fing an, mit meinen Augen das Innere der Straßenbahn nach all jenen Menschen abzusuchen, die ebenfalls wie ich kein ursprungsdeutsches Äußeres aufwiesen und denen ich deutlich ansah, dass sie Selbiges taten.“

Ich begann nun jedenfalls das zu machen, was Menschen migrantischen Aussehens in solchen Situationen immer machen: Ich fing an, mit meinen Augen das Innere der Straßenbahn nach all jenen Menschen abzusuchen, die ebenfalls wie ich kein ursprungsdeutsches Äußeres aufwiesen und denen ich deutlich ansah, dass sie Selbiges taten wie ich. Wenn auch geschickter, unscheinbarer, hatten sie sich ihrer Umwelt angepasst, wussten sie genau, wie und wohin sie blicken mussten, ohne auffällig zu sein. Ich hingegen musste noch üben, das Schwenken meines Kopfes und das Umherblicken meiner Augen waren wahrscheinlich zu hektisch, merkte man mir sicherlich an, dass ich unter den Fremden ein Fremder war. Auch registrierte ich nun präzise, wer ein- und ausstieg, hielt das Kräfteverhältnis genau im Blick, wollte einschätzen können, ob ich womöglich an der anvisierten Endhaltestation plötzlich als einziger Schwarzkopf aussteigen müsste.

Als die Straßenbahn dann aber schließlich an der „Mecklenburger Alle“ ankam, traten dort gar nicht mal so wenige Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund aus der Tram; darunter ein paar Vietnamesen, einige Syrer und auch ein Afrikaner. Im Nachhinein betrachtet ist das gar nicht so erstaunlich, da immerhin 11 Prozent der Einwohner Lichtenhagens einen Migrationshintergrund aufweisen, was ich zum Zeitpunkt meiner Reise allerdings nicht wusste. Was mir damals aber dennoch auffiel, war, dass zumindest jene von ihnen, die ich zu jenem Zeitpunkt dort aussteigen sah, einen eingeschüchterten Eindruck auf mich machten. So, als wollten sie krampfhaft unauffällig sein, aber wären sie gleichzeitig auf der Hut. Ein Eindruck, der zu dem passt, was der Linken-Politiker Seyhan Atay-Lichtermann vor einigen Monaten in einem Gespräch beim NDR gesagt hatte. Dieser war Ende der 1990er-Jahre mit seinen Eltern als Flüchtling nach Rostock gekommen, wo sie als Familie in Lichtenhagen gegenüber dem Sonnenblumenhaus eingezogen waren. Auf die Frage der Moderatorin, wie er die Zeit damals als Jugendlicher erlebt habe, antwortete er, dass es keinen Tag gegeben habe, an dem er nicht körperlich angegriffen worden sei.

„Ich selbst muss jedenfalls gestehen, dass ich ein wirklich mulmiges Gefühl hatte, als ich die Haltestation verließ, um zu der von dort aus noch einige Minuten entfernten Hochhausreihe zu gelangen, die im Jahre 1992 als das Sonnenblumenhaus in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingehen sollte.“

Ich selbst muss jedenfalls gestehen, dass ich ein wirklich mulmiges Gefühl hatte, als ich die Haltestation verließ, um zu der von dort aus noch einige Minuten entfernten Hochhausreihe zu gelangen, die im Jahre 1992 als das Sonnenblumenhaus in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingehen sollte. Ein weitaus mulmigeres Gefühl als jenes, das ich 2017 hatte, als ich den Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg besuchte. Dort spürte ich damals in der gesamten Stadt eine so deutliche Anspannung in der Luft, die mich sogar veranlasste, einen Zug früher als geplant für die Heimreise zu nehmen. Eine explosive Stimmung, die nicht nur durch angetrunkene junge Einheimische verursacht wurde, sondern auch durch aggressiv auftretende Flüchtlinge, die im Rahmen der damals noch relativ frischen Flüchtlingsbewegung nach Deutschland gekommen waren und nun ziellos durch die Straßen von Chemnitz liefen. Nach meiner Chemnitzreise sollte es nur noch ein Jahr dauern, bis sich diese Anspannung in den mehrtägigen Ausschreitungen von Chemnitz entlud. Damals hatten drei Asylbewerber aus Syrien und dem Irak den halb aus Kuba stammenden Daniel H. in einer Shishabar mit Messerstichen getötet. Ein Mord, der tagelang andauernde Proteste von Rechten und Gegenproteste von Linken zur Folge hatte.

Um auf Lichtenhagen zurückzukommen, versuchte nun jedenfalls auch ich so unauffällig wie möglich zu bleiben, während ich in Richtung der Sonnenblumenhäuser ging, behielt gleichzeitig aber auch alles um mich herum genau im Blick. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, verzichtete ich trotz meines Dranges darauf, einige Migranten anzusprechen, um mich nach ihren Erfahrungen in diesem Stadtteil zu erkundigen. Außerdem wollte ich auch nicht, dass der Eindruck entsteht, als handele es sich bei mir um einen Brennpunkttouristen, der sich lediglich seine Portion Adrenalin abholen will, indem er solche Stadtteile durchquert. Schließlich handelt es sich hier – selbst, wenn unter ihnen welche sein sollten, die mich wegen meines sichtbaren Hintergrunds nicht in diesem Lande haben wollen – um meine Mitmenschen, ist dies hier ihr Wohnraum, handelt es sich hier um keinen Menschenzoo. Ich bin nicht der Sensation wegen hierhergekommen, sondern mit der Absicht, dieses Land besser zu verstehen, die Bilder, die ich über die Jahre so oft über die Mattscheibe habe laufen sehen, mit dem eigenen Auge einzufangen, so dass ich sie vielleicht verarbeiten kann.

Die Sonnenblumenhäuser waren nicht weit von der genannten Straßenbahnendhaltestelle entfernt, hatte ich mein Ziel schon nach wenigen Gehminuten erreicht, betrat ich nun den Weg an der Südseite der Hochhausreihe, der von einer relativ gut gepflegten und sauberen Rasenfläche umgeben war. Allerdings befand sich die berühmte Sonnenblumenfassade am anderen Ende der Reihe, weswegen ich noch einige hundert Meter vor mir hatte, um auf sie blicken zu können. Aber auch ohne die riesigen Sonnenblumen an der Hochhauswand vor Augen zu haben, wurde mir nun bewusst, dass ich mich hier bereits am Ort des Geschehens befand, wo sich im Jahre 1992 hunderte Randalierer versammelt hatten, um Menschenleben in Rauch aufgehen zu lassen. Ich verlangsamte nun meinen Schritt, schaltete in den Schlendergang, wollte diesen Weg nicht allzu schnell durchschreiten, hatte ich immerhin ganze 600 Kilometer auf mich genommen, um hier zu sein.

Am liebsten wäre ich sogar stehengeblieben, hätte ich die Atmosphäre in Ruhe auf mich einwirken lassen, versucht, einen Hauch deutscher Nachkriegsgeschichte einzufangen. Doch meine Augen wanderten weiterhin konzentriert umher, fiel mein Blick nun auf eine kleine Gruppe junger Männer, die um diese frühe Nachmittagszeit einige Dutzend Meter von mir entfernt herumlungernd vor der Hochhausreihe standen, hatte einer von ihnen ein lässiges Unterhemd an, das seine relativ gut trainierten Oberarme offenlegte. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie mich nicht weiter beachteten, auch wenn sie mich sicherlich bereits wahrgenommen hatten. Wäre ich nun jedenfalls auffällig in ihrem Sichtfeld stehengeblieben, um mich umzublicken oder hätte ich gar mein Smartphone für Fotos gezückt, hätte ich sicherlich ihre Aufmerksamkeit erregt, mit großer Wahrscheinlichkeit sogar ihren Argwohn auf mich gezogen. Anders hätte es sich ehrlicherweise auch nicht an einem Ort wie dem berüchtigten Hochhauskomplex auf dem Kölnberg in Köln-Meschenich verhalten, wenn sich dort eine ortsfremde Person auffällig durch die Gegend bewegen würde.

Also ging ich weiter den Weg an der Südfassade der Hochhausreihe entlang, bis ich schließlich am östlichen Ende der Häuserreihe ankam, wo mich das berühmte Sonnenblumenmuster erwartete, ich bald schon die gesamte Fassade mit einem Blick erfassen konnte. An jener Stelle fühlte ich mich unbeobachtet, so dass ich dort nun einige Augenblicke verweilen konnte, um die Fassadengestaltung genau zu betrachten. Ich wollte schauen, ob sie vielleicht zu mir sprechen würde, ob ich es schaffen könnte, ihr eine weitgehendere Symbolik zu entlocken. Sie blieben mir aber stumm, diese Sonnenblumen, verhielten sie sich zaghaft mir gegenüber, wollten mir nichts von sich preisgeben. Da gab ich bald schon auf, nutzte nun doch die Gelegenheit, ein paar obligatorische Fotos zu schießen, um dann meines Weges zu gehen. Erst später, als ich meine und noch weitere Bilder vom Sonnenblumenhaus nochmal in Ruhe durchging, da sollten sie sich mir öffnen, konnte ich plötzlich tiefer blicken, zeigten sie mir mit einem Male das, was sie zuvor verborgen hatten:

„Sonnenblumen… Eine Blumenart, die hier heimisch wurde; so sehr, dass man irgendwann einmal ihre Herkunft vergessen hatte, bald schon kaum mehr jemand wusste, dass sie einst aus einem anderen Kontinent gekommen war.“

Denn da waren diese drei Sonnenblumen, Abbilder einer ursprünglich aus der Neuen Welt stammenden Pflanze, die erst vor einigen Jahrhunderten in Europa eingeführt worden war. Einer Blumenart, die hier dann heimisch wurde; so sehr, dass man irgendwann einmal ihre Herkunft vergessen hatte, bald schon kaum mehr jemand wusste, dass sie einst aus einem anderen Kontinent gekommen war. Sie gehört seitdem einfach dazu, kommt sie auf unzähligen Malereien vor, widmete van Gogh ihr Ende der 1880er-Jahre eine ganze Bilderreihe, die im Set zu den teuersten Gemälden dieses Erdenrundes gehört. Schließlich vermittelt die Sonnenblume ein Gefühl von Freude, Vitalität und Beständigkeit; ist es kein Zufall, dass sie zu den beliebtesten Abbildungen auf Willkommensschildern, -Karten und Matten gehört. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die DDR-Architekten in den 1970er-Jahren ausgerechnet zu diesem Motiv griffen, als sie die Fassade ihrer Hochhausreihe in der damaligen Vorzeigesiedlung Lichtenhagen zu zieren suchten. Sie wollten nämlich den Bewohnern ihrer Hochhaussiedlung ein Gefühl von Heimat und Zuhause geben.

Als dann aber schließlich die Ereignisse von 1992 über diese Hochhäuser kamen, da wurde die Bedeutung der Sonnenblumen von Lichtenhagen in das Gegenteil verkehrt, wurden sie von nun an national und international unwiderruflich mit gewaltbereiter Fremdenfeindlichkeit konnotiert, ruft ihr Anblick bis heute unweigerlich die hässliche Seite der deutschen Nachwiedervereinigungszeit vors innere Auge. Dabei wollten die drei Sonnenblumen selbst von jenem Zeitpunkt etwas ganz anderes sein als das, für das man sie nun stehen lassen wollte; muss man sie nur genau betrachten, um zu verstehen, dass sie seit den Ereignissen von damals in Wahrheit zu nichts anderem geworden waren als ein Mahnmal gegen all das, was 1992 hinter ihren Fassaden geschehen war.

Denn wer mit Bedacht schaut, der wird erkennen, dass die Sonnenblumen von Lichtenhagen einander zwar stark ähneln, nicht aber identisch sind, es sich bei ihnen um keine Kopien handelt. Sie weisen nämlich unterschiedliche Größen, leicht abweichende Farbnuancen und sogar jeweils eine verschiedene Anzahl von Blütenblättern auf. Auch variiert das Farbspiel auf den Blumen selbst, sowohl in Hinblick auf ihre Kernbereiche als auch in Bezug auf ihre einzelnen Blütenblätter. Dies alles, als wollten sie die feinen Unterschiede im Spektrum der verschiedenen Ethnien des Menschheitsgeschlechts repräsentieren. Ganz so, als wollten sie sagen: „Wir wurden zwar mit unterschiedlichen äußerlichen Markern erschaffen, gehören wir aber alle zusammen, auch wenn wir verschieden sind.“

Eine Aussage, die noch viel mehr dadurch unterstrichen wird, dass diese drei berühmtesten Sonnenblumen Deutschlands einen jeden ihrer Betrachter mit ihren geöffneten Blätterarmen empfangen. Dies, ohne jegliche Unterscheidung vorzunehmen; ist es ihnen gleich, ob ein Vietnamese, ein Ursprungsdeutscher oder jemand aus Afrika auf sie blickt.

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