Geschichten von der Großmutter
Die berühmte Oma von Sonja Tesch
Johanna Tesch war eine Frankfurter Sozialdemokratin und NS-Gegnerin, die im März 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück starb. Ihre Enkelin Sonja Tesch berichtet Schülerinnen und Schülern immer wieder über die Geschichte ihrer Großmutter.
Von Jürgen Prause Donnerstag, 06.10.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 30.09.2022, 9:37 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
„Wie ist es, eine berühmte Oma zu haben?“, will der zwölfjährige Efe Can von Sonja Tesch wissen. Die 80-Jährige ist an die Frankfurter Johanna-Tesch-Schule gekommen, die nach ihrer Großmutter benannt ist. Es ist keine gewöhnliche Unterrichtsstunde für die rund 30 Schülerinnen und Schüler, die Sonja Tesch bei ihrem Besuch gebannt zuhören. Ihre Schule trägt seit 2020 den Namen der Frankfurter Sozialdemokratin Johanna Tesch, die kurz vor dem Ende der NS-Diktatur 1945 im Konzentrationslager Ravensbrück starb. Sie zählte zu den ersten Frauen, die 1919 in die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurden.
Für die Schülerinnen und Schüler der Integrierten Gesamtschule muss die Zeit, in der Johanna Tesch lebte, unendlich weit entfernt sein. Doch Sonja Tesch versteht es, die Ereignisse der Familiengeschichte aus ferner Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Sie zögert keine Sekunde mit ihrer Antwort auf die Frage nach ihrer berühmten Großmutter: „Es ist toll, eine berühmte Oma zu haben“, sagt sie strahlend. In der Familie sei nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Tod der Großmutter oft über die „Ma“ gesprochen worden – so wurde Johanna Tesch liebevoll im Kreis der Angehörigen genannt.
Großmutter nie kennengelernt, aber mit ihr groß geworden
Die 1942 in der Schweiz geborene Sonja Tesch hat ihre Großmutter nie persönlich kennengelernt. Trotzdem sagt sie: „Ich bin mit ihr groß geworden und war von ihr fasziniert.“ Die Eltern von Sonja Tesch waren während der NS-Herrschaft in die Schweiz geflüchtet und lebten dort im Exil. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte die Familie nach Frankfurt zurück, wo Sonja Tesch aufwuchs.
So hat Sonja Tesch, die heute in Hamburg lebt, den Schülern manch eine spannende Episode aus der Familiengeschichte zu berichten. Ihr Vater Carl (1902-1970) war der jüngste Sohn von Johanna Tesch. In der NS-Zeit war er in Frankfurt in einer Widerstandsgruppe aktiv. Er entging 1935 nur knapp der Verhaftung durch die Gestapo und konnte sich mit dem Zug in die Schweiz absetzen. Auch ihre Mutter Margot kam vorübergehend in Gestapohaft, konnte aber später ausreisen. Nach dem Krieg lebte die Familie in Frankfurt mit dem Großvater Richard bis zu dessen Tod im Jahr 1962 unter einem Dach.
„Das muss man bekannt machen“
Dass Sonja Tesch viel über das Leben ihrer Großmutter weiß, liegt auch an den Briefen, die Johanna und Richard Tesch einander in den Jahren 1919 bis 1925 schrieben. Johanna Tesch zählte zu den 37 ersten weiblichen Abgeordneten in der Weimarer Nationalversammlung. Von 1920 bis 1924 vertrat sie den Wahlkreis Hessen-Nassau im Reichstag in Berlin. Schon in ihrer Heimatstadt Frankfurt hatte sie sich zuvor für die Rechte weiblicher Hausangestellter und für die Bildungschancen von Mädchen engagiert. Während ihrer politischen Tätigkeit im Parlament kümmerte sich ihr Mann Richard, ebenfalls Sozialdemokrat und gelernter Schneider, zu Hause in Frankfurt neben seiner Arbeit in einer Druckerei um Haushalt und Söhne.
Den Briefwechsel ihrer Großeltern hat Sonja Tesch von ihrem Vater Carl nach dessen Tod geerbt. Schon beim ersten Lesen sei ihr klar gewesen: „Das muss man eigentlich bekannt machen“, erzählt sie bei ihrem Besuch in Frankfurt. Im vergangenen Jahr ist der Briefwechsel unter dem Titel „Johanna und Richard Tesch: Der Deiwel soll die ganze Politik holen“ in Buchform erschienen. An der Herausgabe und Kommentierung der Briefe hat Sonja Tesch mitgearbeitet. Die Originale befinden sich heute im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte.
Häftling Nr. 72681 im KZ Ravensbrück
Johanna Tesch starb kurz vor ihrem 70. Geburtstag im März 1945 als Häftling Nr. 72681 im Konzentrationslager Ravensbrück. Nach dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 war die frühere Abgeordnete der SPD im Zuge der „Aktion Gitter“ im August 1944 verhaftet und von der Gestapo verhört worden. Vergeblich setzte sich Richard Tesch mit Briefen für die Freilassung seiner Frau ein. Von ihrem Tod erfuhr er erst vier Monate später, im Juli 1945.
Dass das Leben von Johanna Tesch nicht in Vergessenheit gerät, dazu hat ihre Enkelin Sonja Tesch auch mit ihrem Besuch an der Johanna-Tesch-Schule beigetragen. Auch Schulleiterin Anette Günther sieht einen erzieherischen Auftrag darin, die Erinnerung an die Frauenrechtlerin und Parlamentarierin wachzuhalten. „Johanna Tesch hat großen Mut bewiesen und sich für Menschen eingesetzt, die am Rande der Gesellschaft lebten und arbeiteten“, sagt die Pädagogin. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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