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Miriam Rosenlehner, Migazin, Portrait, Rassismus, Schriftstellerin, Buch
Miriam Rosenlehner © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Ansichten & Aussichten

Was unsere Geschichten über uns erzählen

Wie wollen wir mit Rassismus in unseren Kindergeschichten umgehen? Bei dieser Frage muss es um die Wirkung im Hier und Heute gehen, statt um Tradition.

Von Dienstag, 11.10.2022, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 08.10.2022, 16:47 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Winnetou sanktionieren, das war eine richtig große Nummer. Wer sich bei Dreadlocks noch nicht aufgeregt hat, bei Winnetou war es jedenfalls so weit. Hätte man kommen sehen können, weil Winnetou die Kindheitserinnerungen der privilegiertesten Gruppe in Deutschland bevölkert. Sie, Politiker und Wirtschaftsbosse, die bei härtesten Angängen vor Kameras keine Miene verziehen, wurden diesmal bei Winnetou gefühlig und trotzig. Man konnte den Eindruck gewinnen, als seien sie noch Jungs, denen man ihr Spielzeug wegnehmen wollte.

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Aber die vielfach medienwirksam kindische Befassung wird dem Thema einfach nicht gerecht. Die Kindertränen bei Winnetous Tod, von denen gestandene Politiker berichteten, die lebensechten Schaufensterpuppen mit Winnetoukostüm, die die bayerische Staatsspitze im Bierzelt unter Gejohle mit auf die Bühne schleppte – alles war dazu angetan, die Aufmerksamkeit auf die Gefühle der (weißen) Jungs von damals zu richten. Und die aktuellen Anliegen der in Winnetou Dargestellten als unbegründet und irrelevant darzustellen.

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Die Frage, die viele umtreibt, ohne sie auszusprechen: Was bleibt von unserer Kultur übrig, wenn wir jetzt all diese liebgewonnen Kindheitssymbole versenken? Winnetou, Pocahontas und Pippi Langstrumpf zum Beispiel. Ja, was bleibt eigentlich, wenn wir diese Geschichten infrage stellen? Wenn sie tatsächlich der Kern unserer Kinderkultur sind, was sagt das über unsere Kulturverständnis aus? Sehen wir uns unsere Erzählkultur also genauer an.

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Was Geschichten leisten

Menschen sind Geschichtenerzähler und Konsumenten von Geschichten, das war und ist in allen Kulturen so. Geschichten transportieren Erfahrungen, sie bilden die Fantasie aus, die wir brauchen, um in der realen Welt mit neuen Situationen umzugehen. Sie ermöglichen Probehandeln, so nennt es die Pädagogik, bevor wir wirklich handeln. So lernen Kinder über die Welt, das gibt ihnen Sicherheit. Wir lernen aus Geschichten unsere ersten Begriffe von Richtig oder Falsch und wir erfahren, wie man sich in Gesellschaft verhält. Das funktioniert so gut, weil wir uns mit den Figuren identifizieren.

Identifikation ist der Grund, warum die Herren empört und gefühlig werden, wenn es um Winnetou geht. Sie alle sind in die Rolle ihrer Kindheitshelden geschlüpft, um nachzufühlen, was diese an moralischen Werten, Handlungsweisen, Freundschaft, Normativität zu bieten hatten. Identifikation nachgeschlagen bedeutet: Sich in die Rolle von jemandem versetzen, sich zugehörig fühlen. Mittendrin, statt nur dabei.

Es geht also in Kindergeschichten auch darum, ob man teilnehmen kann oder Zuschauer bleibt. Aus meiner Kindheit erinnere ich zwei Erlebnisse mit Zugehörigkeit beim Lesen, die den Prozess der Identifikation besser erklären können.

„Ich fühlte aber mit dem kleinen schwarzen Mädchen und meine Erinnerung änderte sogar ihre Hautfarbe, damit sie besser zu mir passte.“

Eines meiner ersten Leseerlebnisse war das Kinderbuch „Drei kleine Mädchen“. Ich habe es als ungewöhnlich divers in Erinnerung: Die Mädchen waren weiß, rot und schwarz. Ich identifizierte mich mit dem schwarzen Mädchen, das ich als dunkelhäutig erinnerte, bis ich das Buch jetzt noch einmal googelte. Tatsächlich sind alle Mädchen weiß, nur die Farbe ihrer Kleider und Haare unterscheiden sich. Ich fühlte aber mit dem kleinen schwarzen Mädchen und meine Erinnerung änderte sogar ihre Hautfarbe, damit sie besser zu mir passte.

Ich erinnere mich, dass es ein neues Erlebnis war, in der Geschichte vorzukommen, das Gefühl zu haben, dabei gewesen zu sein. Sogar an einzelne Sätze erinnere ich mich: „Da weinte das kleine schwarze Mädchen“ stand da. Und ich schämte mich für ihre Tränen und fragte mich, warum sie so ein Weichei war. Meine Scham erzählt, dass ich mich identifizierte, denn meine Scham ist ein Stellvertretergefühl, sie tauchte auf, weil ich mich zugehörig zum kleinen schwarzen Mädchen fühlte: Identifikation.

Identifikation erlebte ich auch beim Turban tragenden „kleinen Muck“ des bekannten deutschen Dichters Wilhelm Hauff. Weil das bestimmende Gefühl meiner Kindheit Unzugehörigkeit war, was ich aus den Begegnungen mit meiner Umwelt erschloss, glaubte ich, dass ich eigentlich nicht hier sein sollte, sondern dort, wo man Turbane trug. Ich hörte besonders aufmerksam zu, weil ich glaubte, etwas über die Orte zu hören, an die ich „eigentlich“ gehörte: Identifikation. Heute weiß ich, dass diese Geschichten klischeehaft waren. Ich lernte nichts über diese Orte, sondern nur über das Bild, das diese Gesellschaft von diesen Orten hat.

„In meiner Kindheit gab es meterweise Geschichten, in denen ich Unzugehörigkeit erlebte…“

Viel häufiger aber erlebte ich das Zuschauergefühl, das sich einstellt, wenn man Geschichten hört, mit denen man sich nicht identifizieren kann. In meiner Kindheit gab es meterweise Geschichten, in denen ich Unzugehörigkeit erlebte: Hensel und Gretel, drei Fragezeichen, die Odyssee, das Nibelungenlied, das unser Lehrer uns in wochenlangen Erzählungen im Unterricht darlegte.

Ich gewöhnte mich an diesen Zuschauerposten und glaube, dass er meinen soziologisch-ethnologischen Blick auf die Gesellschaft erschuf, den ich noch heute pflege. Er ist weniger gefühlig, mehr analysierend.

Geschichten sind politisch

Ein Aufreger bei der Winnetoudebatte war, dass man Winnetou als harmlos, geschichtslos und neutral darstellte. Es war ja nur Unterhaltungsliteratur. Wenn wir die Darstellungen von Kindergeschichten wie Winnetou oder Märchen aber als unpolitische Erzählungen begreifen, übersehen wir neben den Fragen der Identifikation auch die ureigenste Funktion von Geschichten: Wertevermittlung und den eigentlichen Erschaffungsprozess von Gesellschaft.

„Unsere Geschichten sind nicht neutral und waren auch niemals so gedacht.“

Wir übersehen, dass alle Geschichten Geschichte, also Historie, sind. Dass sie Bilder transportieren und gerade für Kinder Wissen über die Welt bereitstellen. Mein kleiner Muck zum Beispiel ist ein gewollt gesellschaftskritisches Buch. Märchen sind politisch und politisch gemeint. Sie waren getarnte Gesellschaftskritik. Dass sie fiktiv erzählten, hat den Grund, dass man nicht offen sprechen konnte. Ihre Adressaten standen schon im Titel und waren nicht zufällig, sondern politisch gewählt: „Mährchen für Söhne und Töchter gebildeter Stände“ hieß das Werk, aus dem der kleine Muck entnommen ist. Märchen und Geschichten sind letztlich Verhandlungen über Moral und so waren sie auch gemeint. Unsere Geschichten sind nicht neutral und waren auch niemals so gedacht.

Geschichten von anderen oder über andere?

Der Kanon unserer bekanntesten Märchen und Kinderbücher zeigt vor allem ein Merkmal: Wir haben Geschichten, die aus einer Gesellschaft heraus deren Werte und Ansichten transportieren. Wir lernen diese Gesellschaft durch ihre Geschichten kennen, nicht durch Geschichten über sie. Das ist so bei den Kinderbüchern der westlichen Welt: Wir kennen deutsche, tschechische, russische Märchen und Autoren. Ihr hervorstechendes Merkmal ist, dass sie den echten gesellschaftlichen Kontext transportieren, weil sie aus der Mitte dieser Gesellschaften kommen. Sie transportieren Bilder aus einer anderen Welt.

„Diese Geschichten stehen heute zur Debatte. Weil sie nicht unpolitisch sind und das nie sein wollten. Weil sie einem eurozentrischen gesellschaftlichen Kontext entnommen sind…“

Auf der anderen Seite haben wir erfundene Geschichten über die kolonisierte Welt. Zu der letzten Sorte gehört Winnetou, Pocahontas, Robinson Crusoes „Freitag“ und auch mein kleiner Muck. Diese Geschichten stehen heute zur Debatte. Weil sie nicht unpolitisch sind und das nie sein wollten. Weil sie einem eurozentrischen gesellschaftlichen Kontext entnommen sind, dessen Werte sie transportieren und diese Werte den Interessen der besprochenen Gesellschaften zuwiderlaufen. Und weil diese Geschichten den Sachverhalt verdecken, dass in unserem Kanon selten Geschichten aus der Welt außerhalb Europas vorkommen. Wir haben Anstatt-Geschichten, während wir die Geschichten der Welt ausklammern, nicht hören, nicht erzählen.

Pocahontas zum Beispiel ist eine bereits alte Propagandaerzählung, die nachweisen soll, dass die Kolonisierung Nordamerikas friedlich und im Einvernehmen mit Indigenen geschah. Es ist unschwer zu erkennen, dass das nicht die Perspektive der Indigenen ist. Trotzdem ist sie ein netter Kinderfilm geworden, den manche aus Versehen als woke betrachten könnten, weil eine Indigene die Hauptfigur ist.

Warum also gehören authentische russische und tschechische Märchen in unseren Augen zur Hochkultur, nicht aber indigene oder afrikanische? Warum lesen wir unseren Kindern keine authentischen Geschichten aus diesen Gesellschaften vor und wählen stattdessen – Winnetou? Dass wir die echten Geschichten nicht kennen, ist ein Vermächtnis unserer Geschichte. Es gibt dafür historische Gründe, die wir bis heute fortführen.

Warum wir unseren Kindern keine „Geschichten aus“ erzählen

„In Zeiten des heißen Kolonialismus war es Politik, die Geschichten, die Religionen, die Sprachen der Kolonisierten auszulöschen und durch europäische Werte zu ersetzen.“

Geschichten haben Geschichte. Sie haben eine Perspektive. In Zeiten des heißen Kolonialismus war es Politik, die Geschichten, die Religionen, die Sprachen der Kolonisierten auszulöschen und durch europäische Werte zu ersetzen. Indigenen wurde von Kanada über Amerika und Australien bis in die 1980er Jahre ihre eigene Kultur verboten und das mit brutalsten Mitteln. Mit afrikanischen Kulturen verfuhr der Weiße Mann nicht anders. Familien wurden zerrissen, kulturelle Gemeinschaften „umgesiedelt“ und getrennt, Sprachen verboten, Kleidungsstile und Jahrtausende alte religiöse Praxen bei Androhung des Todes untersagt. Sie überlebten nur, weil Kolonisierte heimlich daran festhielten. Vieles ist verlorengegangen und geht derzeit verloren. Und vieles wird bis heute mit äußerster Vorsicht gehütet, nicht preisgegeben, nicht aufgeschrieben. Das ist Ergebnis unserer Geschichte mit den ehemalig kolonisierten Gebieten der Erde.

Kein Wunder, dass die Geschichten aus diesen Gesellschaften nicht in Europa ankamen, sie waren geächtet und verboten. Stattdessen gab es die Geschichten über die Kolonien. Sie sind uns geblieben, sie sind Teil unserer Kultur geworden, weil die echten Geschichten ausgelöscht werden sollten. Dieses Vorgehen ist Teil jedes Völkermordes, bis heute. Was wir also haben, sind Geschichten, die statt der echten erzählt wurden. Aus politischen Gründen. Nein, diese Geschichten sind nicht neutral, wie könnte das auch sein, sie sind von Anfang an politisch gewesen.

Kolonialismus ist ein Monokulturprojekt. Der Kolonialismus hat Kulturen in einem Ausmaß ausgelöscht, dass wir noch gar nicht begriffen haben. Und das hängt auch damit zusammen, dass wir die Kinder sind, die die Anstatt-Geschichten gehört haben.

Neutralität

„Es ist ein Merkmal der Weißen Denkschule, die eigenen Erzählungen und uns selbst als neutral, als unparteiisch zu begreifen.“

Es ist ein Merkmal der Weißen Denkschule, die eigenen Erzählungen und uns selbst als neutral, als unparteiisch zu begreifen. Wir halten unsere Kindergeschichten für neutral, weil wir unsere Kultur für neutral halten. Wo haben wir diese selbstverständliche Haltung gelernt? Vermutlich in unseren monokulturellen Kinderbüchern. Geschichten sind immer Geschichte. Geschichte ist eine Sammlung von Geschichten. Es spielt selbstverständlich eine Rolle, wer sie erzählt. Umso mehr bei fiktiven Geschichten, die man schlechter mit historischen Daten abgleichen kann und deren Authentizität nur scheinbar keine Rolle spielt.

Neutralität gibt es nicht. Wir alle sind nicht neutral. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Geschichten der anderen zulassen und fördern. So könnten wir lernen, über unseren Tellerrand zu sehen. Was wir unseren Kindern bisher anbieten, sind Als-ob-Geschichten. Ihre natürliche Neugier auf die Welt benutzen wir, um ihren eurozentrischen Blick zu gestalten. Wir verweigern ihnen die Vielfalt der Welt. Sie würden das nicht akzeptieren, wenn wir ihnen keine Anstatt-Geschichten anbieten würden. Die Anstatt-Geschichten prägen nicht nur unseren Blick auf die Welt, sie verschleiern auch, dass wir in Wahrheit keine Geschichten aus der Welt kennen.

Abschließend noch ein Wort darüber, wie man als Erwachsener mit dem Verlustschmerz umgehen kann, wenn wieder eine unserer Geschichten als Anstatt-Geschichte enttarnt wird. Es gibt unschädliche und heilende Wege, als Weißer Erwachsener mit seinem inneren 8-Jährigen umzugehen, anstatt ihn weinend und strampelnd bei Twitter oder im Bierzelt zu präsentieren. Die Trauer, die mancher beim Verlust seines kindlichen Weltbildes empfindet, stelle ich nicht in Abrede. Mein Rat für das nächste Mal: Machen Sie es wie eine Mama vor dem Regal mit der Quengelware. Nehmen Sie ihr inneres Kind in den Arm und trösten Sie es. Aber lassen Sie ihm nicht jede Trotznummer durchgehen.

Meinung

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