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Alexander Böttcher, Rassismus, MiGAZIN, Sprache, Integration
Alexander Böttcher © Foto: privat, Zeichnung: MiGAZIN

Katar

Was die WM-Euphorie in Argentinien verrät

Anders als in Deutschland stehen in argentinischen Medien Kultur und Tradition des WM-Landes Katar im Fokus - so, wie sonst auch in Deutschland üblich. Was uns das über Argentinien und über den „Westen“ verrät.

Von Donnerstag, 17.11.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 17.11.2022, 14:46 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Fußball-WM in Katar ist natürlich gegenwärtig ein großes Thema. Täglich erscheinen in Deutschland mediale Berichte zu ihrem (korrupten) Zustandekommen, den (unwürdigen) Arbeitsbedingungen der Baustellenarbeiter und zu den (wenig vorhandenen) Menschenrechten. Dazu handelt es sich noch um eine WM mitten im Winter! Public Viewing bei grauem und regnerischen Novemberwetter? Die Euphorie rund um ein sportliches Großereignis war in Deutschland schon mal größer.

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Dass das nicht unbedingt die globale Stimmungslage im Hinblick auf die WM repräsentiert, zeigt ein Blick nach Argentinien. So waren drei der vier am schnellsten ausverkauften Spiele die drei Gruppenspiele der argentinischen Nationalelf. Das weitere ausverkaufte Spiel war das WM-Finale. Seit dem letztjährigen Copa América Sieg im heiligen Maracanã gegen den ewigen Erzrivalen Brasilien ist die Euphorie rund um die „Scaloneta“, wie die von Lionel Scaloni trainierte Mannschaft liebevoll genannt wird, ungebremst. Endlich hatte Messi seinen Titel mit der Nationalmannschaft! Endlich konnte Argentinien wieder ganz oben thronen!

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„Im Fokus stehen viel mehr die Lebensgewohnheiten, Kultur und die Traditionen Katars. Eben wie dies klassischerweise anlässlich solcher sportlichen Großereignisse auch in Deutschland geschah und aktuell kaum medial vorzukommen scheint.“

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Doch was ist mit oben genannter Kritik rund um die Fußball-WM? Wieso verkauften sich die Tickets so schnell? Spielen demokratische Werte in Argentinien keine Rolle? Ebenso offenbart der Medienkonsum (der natürlich subjektiv ist) eine andere Form der Berichterstattung in Argentinien: Im Fokus stehen viel mehr die Lebensgewohnheiten, Kultur und die Traditionen Katars. Eben wie dies klassischerweise anlässlich solcher sportlichen Großereignisse auch in Deutschland geschah und aktuell kaum medial vorzukommen scheint. Für diese Beobachtung bieten sich uns gleich mehrere Erklärungsansätze an, die einen erkenntnisvollen Mehrwert bieten können.

Vorab muss hervorgehoben werden, dass die Bedeutung, die der Fußball für die Gesellschaft und die Nation Argentinien inne hat, erlebt werden muss. Auf textlicher Ebene kann das, was sich bei so vielen Menschen gefühlsmäßig abspielt wohl kaum vermittelt werden. Einen Hinweis darauf, was diesen Wahnsinn für den Fußball in Argentinien befeuert gibt der Soziologie und Philosoph Pablo Alabarces in seinem Buch „Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation (Edition Suhrkamp)“. In Anlehnung an Benedict Andersons bekannte Arbeiten zu Nationen als Erfindungen und imaginierte Gemeinschaften, arbeitet Alabarces heraus, welche immense Bedeutung der Fußball für diesen Imaginationsprozess innehat. Der Fußball nimmt hierbei die für die Nation Argentinien identifikationserzeugende Rolle ein, die ursprünglich den klassischen Institutionen eines (demokratischen) Gemeinwesens zu Gute kommen würden. Diese Institutionen können und konnten in den letzten Jahren in einer solchen krisengebeutelten Gesellschaft ihrer Rolle nicht nachkommen.

Dass die Politik und die Wirtschaft die Bedeutung des Fußballs für sich nutzen können, ist ein globales Phänomen. In Argentinien war dies besonders gut erkennbar als 1978 das militärdiktatorische Regime den ersten argentinischen WM-Sieg bei der Heim-WM propagandistisch einzuspeisen wusste. Jedoch war der zweite und bis dato letzte WM-Sieg 1986 in Mexiko für die wiedergewonnene Demokratie ebenso von großer Bedeutung.

„Der Fußball dient als Ventil der Hoffnung für ein Land, das von extremer ökonomischer Ungleichheit gezeichnet ist.“

Heute scheint die WM und die damit verbundenen berechtigten Hoffnungen (übrigens auch des weiblichen Bevölkerungsanteils) auf einen Triumph wieder eine politische und emotionale Funktion zu erfüllen. Es offenbart sich ein Eskapismus: Der Fußball dient als Ventil der Hoffnung für ein Land, das von extremer ökonomischer Ungleichheit gezeichnet ist. Ein Land in welchem große Teile der Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze leben und die vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Ein Land in welchem ein Bewusstsein vorherrscht, dass die nächste Krise sicher kommen wird. Dem werden Heilsbringer-Figuren, wie 1986 Maradona und heute Messi sowie die Verknüpfung der eigenen Identität und des eigenen Selbstwertgefühls mit elf Spielern, die einen Pokal gewinnen, entgegengesetzt. In die Nationalmannschaft wird die Hoffnung auf das Vorankommen, sowohl persönlich als auch des Landes, hineinprojiziert.

Wer nun den Argentiniern einen Vorwurf machen möchte, dass sie in ihrer Euphorie all die moralisch abzulehnenden Hinter- und Vordergründe zur WM in Katar vergessen mögen, hat nicht ganz unrecht. Das Ausblenden dieser Umstände offenbart zweifelsfrei einen gewissen Zynismus oder Opportunismus. Dem ist aber einerseits zu entgegen, dass es selbstverständlich auch Beschäftigungen mit der (anti-)demokratischen Situation in Katar gibt. Jedoch eben nicht ausschließlich oder in dem starken Umfang wie in Deutschland. Die geringere Beschäftigung mag auch nicht mit einer weniger „demokratischen Kultur“, wie im „Westen“ gerne über den „globalen Süden“ angenommen wird, zu tun zu haben. Schließlich gab und gibt es durchaus eine verhältnismäßig gute Aufarbeitung der Militärdiktatur (1976-1983) in Argentinien, während fraglich ist, ob eine solche Aufarbeitung in Deutschland ohne „Hilfe“ der alliierten Siegermächte nach 1945 gelungen wäre.

„Das Eintreten für „demokratische Werte“ des „Westens“, den es so nicht gibt,… hat doch einiges an Glaubwürdigkeit verspielt.“

Andererseits wäre etwas weniger Eurozentrismus in einer solchen Debatte angebracht. Beispielsweise beim Gejammer über eine Winter-WM, welche für den gesamten globalen Süden seit Jahrzehnten eine Normalität darstellt. Auch der „moralische Zeigefinger“ scheint, bei aller faktischen Berechtigung in Bezug auf die WM, seine Wirkung verloren zu haben. Zu eindrücklich waren die „civilian casualties“ der „Auslandseinsätze“ in den letzten Jahrzehnten. Unvergessen bleiben in Lateinamerika die geheimdienstlich unterstützten Militärcoups, die als direkte Antwort auf demokratisch gewählte sozialistische Regierungen folgten. Insofern hat das Eintreten für „demokratische Werte“ des „Westens“, den es so nicht gibt, der aber natürlich in polarisierten politischen Diskursen und im Alltagsverständnis von Milliarden Menschen auf dem Globus existiert, doch einiges an Glaubwürdigkeit verspielt.

Zuletzt bleibt zu sagen, dass der Blick in die (angebliche) Peripherie uns helfen kann die globalen Auswirkungen unseres Wirtschaftens vor Augen zu führen. Argentinien ist ein Land im dauerhaften Krisenzustand. Doch auch Europa scheint immer mehr im ständigen Krisenmodus: Eine „Krise“ folgt auch hier auf die nächste, ebenso überlappen sich „die Krisen“. Dies wirft die Frage der Systemimmanenz solcher „Krisen“ auf. Der Eskapismus kann bei solchen wirtschaftlichen wie politischen Gemengelagen eine menschlich nachvollziehbare Reaktion zu sein. Dennoch darf bei allem Eskapismus eines nicht vergessen werden: Im Gegensatz zu Demokratie und wirtschaftlichen „Krisen“ handelt sich beim Fußball bloß um ein Spiel. Meinung

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Die in Deutschland 2006 durchgeführte WM war durch F. Beckenbauer im Auftrag des DFB per Bestechungsgelder gekauft worden. In der Nacht zum Ostermontag 2006 wurde der Deutsch-Äthiopier Ermyas M. in Potsdam ins Koma geprügelt. Die Ermittler gingen zunächst von einem rassistischen Hintergrund aus. Daraufhin reagierte der Afrika-Rat und die Menschenrechts-Liga hat zur Fußball-WM 2006 im Sommer in Deutschland eine Karte von „No-Go-Areas“ für dunkelhäutige Touristen veröffentlicht, um sie zu schützen. Afrikanische und asiatische WM-teilnehmer hätten direkten Grund gehabt, Deutschland aufgrund des realexistenten alltäglichen Rassismus hart zu kritisieren und zu boykottieren. Es gibt auch weitere Menschenrechtsdefizite in Deutschland: Rassistische Morde mit vielen Toten und Verletzten, wie in Mölln, Solingen, München, NSU-Serienmorde sowie NSU 2.0 samt der Verstuschungen und Verdunkelungen statt rechtstaatlicher Aufklärung. Tausende Kinder wurden und werden es immer noch durch aufgrund kirchlischer Schutzvorrichtungen straffrei ausgehender pädophiler Priester sexuell missbraucht. Brennende Flüchtlingsheime und Anschläge, wie in Hanau etc. sind ebenso regelmäßig im Erscheinungsbild wie die bittere tatsache, dass Deutschland laut BKA-Zahlen Weltmeister ist bezüglich Anschläge auf Moscheen. Bei all diesen Fakten frage ioch mich, woher die deutschen Bürger, Medien und Politiker den Willen und die Absicht her nehmen, Katar als Ausrichter der WM 2022 fingerzeigbetreibend und per der üblichen schlecht gespielten Echauffierung zu kritisieren und dabei aber stets über die in eigener Sache existenten Missstände hinwegsehen.