Grenzräume
Für einen Grenz-Abolitionismus – ein Aufruf
Meine letzte Kolumne dieses Jahr ist kein versöhnlicher Jahresabschluss, sondern ein Aufruf, radikaler in unseren Forderungen zu werden. Ich nehme alle dafür in die Pflicht, sich an der Debatte, um einen Grenz-Abolitionismus zu beteiligen.
Von Lukas Geisler Sonntag, 11.12.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 11.12.2022, 14:59 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Mit meiner letzten Kolumne dieses Jahres möchte ich ein Zeichen setzen und die Debatte um die Abschaffung von staatlichen Gewaltinstitutionen, wie dem Grenzschutz, in die breitere Öffentlichkeit holen. Denn auch der Regierungswechsel im letzten Jahr hat nichts an den sich verschärfenden Tendenzen des europäischen Grenzregimes geändert. Mickrige zwei Millionen Euro gibt die Bundesregierung nächstes Jahr an zivile Seenotrettungsorganisationen, während die Zäune und Mauern weiter befestigt werden.
Verzweifelt, wütend und fast hoffnungslos schreibe ich diese Zeilen. Nichts scheint sich zu ändern. Das Leid verschärft sich. Krisen weiten sich aus. Diese Kolumne wird länger, doch wenn sich auch nur Wenige die Mühe machen sie zu lesen, dann hat es sich vielleicht schon gelohnt. Ich fordere alle dazu auf, sich an einer breiten Diskussion, um die Abschaffung aller Grenzen zu beteiligen. Und ich will, dass sich endlich mehr Menschen mit den Möglichkeiten eines Grenz-Abolitionismus auseinandersetzen. Was das ist, erkläre ich gerne.
Was ist Abolitionismus?
Abolitionismus meint wörtlich Abschaffung. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Ausführungen von Vanessa E. Thompson und Daniel Loick, die im Sommer 2022 einen Reader zum Abolitionismus herausgaben, in dem sie erstmals die wichtigsten Stimmen dieser internationalen Diskussion in deutscher Sprache zugänglich machen.
Abolitionismus bezeichnet sowohl einen theoretischen Ansatz als auch eine politische und soziale Bewegung, die sich für die Überwindung staatlicher Gewaltinstitutionen wie Gefängnis und Polizei einsetzt. Die Ursprünge liegen dabei in den Kämpfen gegen die Versklavung in den USA und in der Karibik im 19. Jahrhundert. Anschließend an die Widerstände gegen den Plantagenkapitalismus unternehmen radikale Abolitionist:innen eine Lesart eines Abolitionismus „von unten“.
Abolitionistische Praktiken „von unten“
Thompson und Loick schreiben: „In der Tradition des Kampfes gegen die Versklavung schwarzer Menschen betonen Abolitionist:innen die rassistische Geschichte staatlicher Gewaltapparate und ihre Komplizenschaft mit Formen kapitalistischer Ausbeutung und patriarchaler Unterdrückung“. Dabei verweist der Zusatz „von unten“ darauf, dass gerade widerständige Praktiken hervorgehoben werden, die von den Unterdrückten selbst ausgehen.
Abolitionistische Praktiken umfassen dann zwei Prinzipien: Zum einen die Abwehr, der Entzug oder die Flucht aus den rassifizierten Ausbeutungsverhältnissen. Zum anderen die Bildung von neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, Rationalitäten, Beziehungs- und Produktionsformen. In den letzten Jahren wurden diese Prinzipien aktualisiert und die Themenfelder erweitert.
Abschaffung ist eine Maximalforderung
„Abolitionismus setzt voraus, dass wir eine Sache ändern, nämlich alles“, ist ein Slogan, den Ruth Wilson Gilmore geprägt hat. Mit diesem bringe sie, folgt man Thompson und Loick, die Pointe sowie die Schwierigkeit des Abolitionismus zum Ausdruck. Die radikale Abschaffung beispielsweise von Grenzen ist eine Maximalforderung. Als solche bringt sie eine Kritik an Reformbestrebungen mit sich. Unter anderem liegt dies an den historischen Ursprüngen, denn die Sklaverei ist falsch und nichts, was sich reformieren lässt.
Doch auch die Aktualisierung lässt von dieser Forderung nicht ab. Gefängnisse sowie das Polizeiwesen wurden im Laufe der Geschichte immer wieder reformiert, allerdings hat kaum eine Reform zur Verbesserung geführt. Gegenteiliges ist der Fall. In Deutschland lässt sich das beispielsweise an dem 2018 reformierten Polizeiaufgabengesetz in Bayern zeigen. Dadurch konnten Klimaaktivist:innen 30 Tage in Präventivhaft genommen werden, ohne dass ihnen ein Prozess gemacht wurde.
Alternativen im Jetzt
Dabei ist vor allem zu betonen, dass abolitionistische Kritik nicht einfach die „Abschaffung von…“ fordert, sondern Alternativen bietet, die bereits in Form von existierenden Projekten, Experimenten und Initiativen gelebt werden. Loick und Thompson schreiben: „Abschaffung ist kein Ereignis in der Zukunft, sondern eine Praxis in der Gegenwart: etwas, das Menschen auch bereits im Kleinen tun“. Über solche Alternativen habe ich ein Buch geschrieben, das ich „Willkommensgesellschaft“ genannt habe.
Gilmore drückt dies folgendermaßen aus: „Was die Welt sein wird, existiert bereits in Fragmenten und Versatzstücken, in Experimenten und Möglichkeiten“. Sie fügt hinzu: „Abolition ist ein Aufbau der Zukunft aus der Gegenwart, auf jede erdenkliche Weise“. Veränderung soll also nicht durch den Staat oder den Gang durch die Institutionen erreicht werden, sondern durch vielfältige nicht-staatliche Praktiken. Darin liegt das sozialrevolutionäre Potential des Abolitionismus, denn ihm geht es darum, eine radikale Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen.
Das europäische Grenzregime
Damit zurück zu europäischen Grenzen: Die militarisierte Politik der Festung Europa hat seit 1993 über 48.647 Menschen getötet. Sie ertranken im Mittelmeer, wurden an den Grenzen erschossen, starben durch Selbstmord in Haftanstalten, wurden gefoltert oder nach ihrer Abschiebung getötet. Die Kampagne Abolish Frontex fasst zusammen: „die EU hat Blut an ihren Händen“.
Frontex ist die Grenzschutzbehörde der Europäischen Union. Sie ist ein wichtiger Akteur im Krieg der EU gegen Menschen, die sich über Grenzen hinwegbewegen. Frontex ist die größte EU-Agentur. Mit einem Budget von 5,6 Milliarden Euro wird Frontex bald über 10.000 Grenzschutzbeamt:innen verfügen, die Schusswaffen besitzen und benutzen dürfen. Innerhalb und außerhalb der EU setzt die Agentur Schiffe, Flugzeuge, Drohnen, Patrouillenfahrzeuge und Radargeräte ein; sie beteiligt sich aktiv an Abschiebungen und Push-Backs und sie hilft Drittländern bei der Überwachung und Kontrolle von Menschen, die sich in Bewegung befinden.
Reformen nicht in Sicht
Eine Abrechnung mit der EU-Agentur habe ich bereits im MiGAZIN veröffentlicht. Nicht nur, dass keine nennenswerte Reform in Sicht ist, die die unmenschliche Politik der EU verändert. Nein, alle Reformbestrebungen der Grenzschutzagentur haben zu deren Kompetenzerweiterung geführt. Europa baut die Festung aus. Dabei sind alle Bemühungen einer reformistischen Politik – mögen Politiker:innen oder andere Akteur:innen das Anliegen auch ernst meinen – gescheitert. Sie sind sie zum Scheitern verdammt, weil ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Grenzschutz und Menschenrechten besteht.
Alle Initiativen, die für eine Reform unternommen werden, reproduzieren nur das, was das ist. Ein Prozess des immer Gleichen, aus dem es scheinbar keinen Ausweg geben mag, aber eine Abschaffung – so unwahrscheinlich sie uns auch erscheint – uns als einzige Möglichkeit übrigbleibt. Abolish Frontex schreibt in abolitionistischer Tradition: „Das Ziel von Abolish Frontex ist es nicht, Frontex zu reformieren oder zu verbessern oder sie durch mehr vom Gleichen zu ersetzen“. Und: „Wir arbeiten auf die Demontage des grenzindustriellen Komplexes und den Aufbau einer Gesellschaft hin, in der sich die Menschen frei bewegen und leben können“.
Neue Konstellationen
Im Prozess des immer Gleichen entstehen zwangsläufig immer neue Konstellationen. Wir denken, dass es in eine bestimmte Richtung geht, dass sich Dinge abzeichnen. Wir verfolgen Tendenzen und kritisieren sie. Doch plötzlich, das lehrt uns die Geschichte, passiert etwas, womit niemand gerechnet hat: Einzelne Ereignisse verdichten sich und lassen die längerfristige Tendenz umschlagen. Es ist also notwendig, nicht davon abzulassen die Abschaffung aller Grenzen zu fordern, bis einmal die Forderung befreiend wirkt und den Zusammenhang, das Grenzregime aufbricht.
Es gibt, so meine These, gewisse Kontingenzerfahrungen – also Zufälligkeiten oder etwas, was unerwartet eintritt –, die Gewohnheiten, Haltungen, Einstellungen, Erwartungen und Regelmäßigkeiten plötzlich nicht mehr plausibel erscheinen lassen und ungeahnte Freiheit möglich werden lässt. Beispiele in der Geschichte gibt es unzählige. Die Theoretiker Theodor W. Adorno und Max Horkheimer beschrieben dies treffend mit einem Satz, den wir ernstnehmen sollten: Dass das Fernste gar nicht das Große schlechthin ist, sondern sich als der nächste praktische Schritt vollziehen kann.
Gegen die eigene Ohnmacht
Niemand kann geschichtliche Brüche voraussagen, aber wir können uns auf die Plötzlichkeit neuer Konstellationen einstellen und vorbereiten. Der Umschlag, das Neue, das, was nicht aufgeht, nicht berechenbar ist und die Widersprüche, sie sind vorhanden. Sie sind da und wir müssen uns nicht fragen „ob“, sondern „wann“ der Umschlag eintritt. Die Proklamation eines Grenz-Abolitionismus kann – nicht mehr, nicht weniger – als ein radikaler Bruch mit der bestehenden Konstellation verstanden werden.
Das derzeitige Grenzregime formiert sich immer wieder neu und verbleibt krisenhaft in Widersprüchen verwickelt. Dies wird auch wieder zu einer neuen emanzipatorischen Praxis führen, die Mauern niederreißt und Grenzen überwindet. In der Zwischenzeit gilt nach wie vor, sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen. Auch wenn bisher nur ein Streif am Horizont zu sehen ist, kann nur die Abschaffung aller Grenzen, ein radikaler Grenz-Abolitionismus, das Ziel sein.
MeinungDie Kolumne stützt sich auf den Reader „Abolitionismus“ von Vanessa E. Thompson und Daniel Loick sowie die Arbeit, die in meiner Kolumne „Grenzräume“ hier im MiGAZIN sowie meinem Buch „Die Willkommensgesellschaft. Eine konkrete Utopie“ stecken. Dabei ist die Kampagne „Abolish Frontex“ ein guter erster Schritt. Lasst uns diese wertvolle Arbeit auf vielfältigen Ebenen fortführen.
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