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Geflüchtete protestieren

„Der UNHCR spielt politische Spiele mit unseren Leben”

Menschen protestieren in Genf für die Bewegung „Refugees in Libya“. Manche von ihnen sind selbst geflohen und haben es nach Europa geschafft, nicht dank, sondern trotz des UNHCR. Die Hilfsorganisation arbeite mit Staaten Hand in Hand gegen Menschen in Not.

Von und Montag, 19.12.2022, 19:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 20.12.2022, 5:37 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

 Ein kleines weißes Zelt, direkt neben einer großen Straße in Genf, biegt sich unter dem nassen Schnee, der seit dem Morgen darauf fällt. Es wirkt verschwindend klein vor dem riesigen, klobigen Bürogebäude, über dessen Eingang weit oben in blauen Buchstaben „UNHCR“ prangt. Vor dem Eingang steht bewaffnetes Sicherheitspersonal. Es ist das Büro des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Im Zelt und darum herum im Schnee stehen etwa siebzig warm eingepackte Menschen, die damit beschäftigt sind, Mikrofone zu verkabeln, Banner aufzuhängen oder sich die Hände an einem Heizpilz wärmen. Die Stimmung ist erwartungsvoll gespannt.

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Die Mahnwache, die den gesamten Freitag, den 9. Dezember 2022, vor dem UNHCR abgehalten werden wird, und die Demonstration am darauffolgenden Tag der Menschenrechte, sind Teil der Kampagne „UNFAIR – The UN Refusal Agency“. Sie wurde gestartet von der selbstorganisierten Bewegung „Refugees in Libya“ gemeinsam mit dem transnationalen Netzwerk „Solidarity with Refugees in Libya“ (wir berichteten).

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Refugees in Libya, das sind Flüchtende, Migrant:innen und Asylbewerber:innen aus Süd-, Ost-, Zentral- und West-Afrika, sowie der Maghreb-Region und dem Nahen Osten, deren Fluchtweg nach oder über Libyen führte. Sie protestierten ab Oktober 2021 einhundert Tage lang vor dem UNHCR-Büro in Tripolis gegen die unerträglichen Lebensbedingungen, denen sie in Libyen ausgesetzt sind. Sie fordern unter anderem die Evakuierung aller Schutzsuchenden aus Libyen, ein Ende der europäischen Finanzierung der sogenannten libyschen Küstenwache und die Schließung der berüchtigten libyschen Haftzentren. Im Januar 2022 wurden diese Proteste gewaltsam von libyschen Sicherheitsbehörden geräumt und viele der Protestierenden in Haft genommen.

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„Immer wieder ergreifen Menschen das Mikrofon, berichten von ihren Erfahrungen, ihrer Enttäuschung, ihrer Wut. Einzelne haben es aus Libyen heraus und nach Europa geschafft. Sie sind heute hier, aber – wie sie beklagen – nicht dank, sondern trotz des UNHCR.“

Überlebende berichten von unerträglichen Bedingungen in diesen Haftlagern. Berichte über Folter, Unterversorgung, sexuelle Gewalt, und schlechte hygienische Bedingungen – hier finden sie Gehör. Nach einer Pressekonferenz am Morgen vor internationaler Presse, stehen die siebzig Personen und das kleine Zelt bis zum Abend als Mahnwache vor dem Gebäude des UNHCR. Immer wieder ergreifen Menschen das Mikrofon, berichten von ihren Erfahrungen, ihrer Enttäuschung, ihrer Wut.

Einzelne haben es aus Libyen heraus und nach Europa geschafft. Sie sind heute hier, aber – wie sie beklagen – nicht dank, sondern trotz des UNHCR. Immer wieder wird an diesem Tag ein Vorwurf laut: Der UNHCR schütze nicht Menschen, sondern Grenzen: „Der UNHCR arbeitet Hand in Hand mit den Staaten, mit den Regierungen, gegen schutzbedürftige Menschen, gegen Menschen in Not. Das ist der UNHCR heute“, sagt der Menschenrechtsaktivist Muhammed al-Kashef.

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Pressekonferenz der UNFAIR-Kampagne. © UNFAIR 2022

In Genf befindet sich das globale Hauptbüro des UNHCR, in dem strategische Entscheidungen bezüglich des globalen Flüchtlingsschutzes getroffen werden. Die Agentur entwickelt hier Kriterien für die Anerkennung des Schutzstatus, vergibt Budgets für die Einrichtung und Versorgung von Flüchtlingscamps weltweit und betreibt Lobbyarbeit mit UN-Mitgliedsstaaten. Die Angestellten in diesem klobigen Genfer Bürogebäude treffen Entscheidungen über Lebensrealitäten von Millionen vulnerabler Personen, die in der Konsequenz oft eine Frage von Leben oder Tod bedeuten.

Die Refugees in Libya sind eine von vielen Protestbewegungen von Flüchtenden gegen diese totale Macht des UNHCR, über ihr Leben zu bestimmen. Auch diese Proteste werden in der Pressekonferenz mit einbezogen. „Diese Organisation wurde gegründet, um Flüchtende zu schützen, das ist die Hauptaufgabe Nummer eins. Aber was wir heute erleben, nicht nur in Libyen, auch im Sudan, in Ägypten, in Tunesien, Algerien, Marokko, überall, in der Türkei, sogar in Griechenland auf den Inseln: Sie tun einfach nichts.“

„Der UNHCR schweigt und sitzt die Kritik aus.“

Die Reaktionen des UNHCR in den jeweiligen Länderbüros scheinen einem Muster zu folgen: Nach einiger Zeit intensiver Proteste werden den Demonstrierenden Gespräche angeboten. Diese führen in den allermeisten Fällen ins Leere, die Proteste hören irgendwann von selbst auf oder werden von nationalen Sicherheitsbehörden geräumt. Der UNHCR schweigt und sitzt die Kritik aus.

Diesmal ist allerdings etwas anders. Mit einigen wenigen der Protestierenden aus Tripolis haben die Proteste der Refugees in Libya ihren Weg bis nach Europa gefunden. Darunter befindet sich auch David Yambio, ihr Sprecher. Die Aktivisten der Refugees in Libya führen auch in Genf die Proteste an, berichten immer wieder von Erfahrungen und bringen die Forderungen in die Entscheidungszentrale nach Genf. Den Protesten angeschlossen hat sich ein transnationales Solidaritätsnetzwerk aus Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen in verschiedenen europäischen und nordafrikanischen Ländern und darüber hinaus. Dieses Netzwerk ermöglichte es, über 250 Personen aus ganz Europa für die Demonstration der „UNFAIR“-Kampagne in Genf zu mobilisieren. Sie versuchen, Aufmerksamkeit zu schaffen für Anliegen, die in Europa sonst nur selten ankommen.

David Yambio eröffnete die Pressekonferenz. Sobald er das Mikrofon in die Hand nimmt, zieht er die volle Aufmerksamkeit der Zuhörenden auf sich: „Libyen muss unsere grundlegenden Menschenrechte achten und schützen. Aber das passiert nicht. Und der UNHCR unterstützt uns nicht dabei, das zu erreichen.“ Detailreich berichtet er von seinen Erfahrungen mit dem UNHCR, von den Protesten in Libyen und der Lebensrealität der Schutzsuchenden.

„Der UNHCR hat sich sehr unfair gegenüber den Menschen verhalten, die auf dem Mittelmeer zurückgedrängt und in die unmenschlichen Konzentrationslager in Libyen zurückgeschickt wurden.“

Während der nasse Schnee sich schwer auf das Dach des Bürokomplexes und des kleinen Zeltes legt, machen Yambios Worte die bedrückende Realität flüchtender Menschen in Libyen greifbar. „Der UNHCR hat sich sehr unfair gegenüber den Menschen verhalten, die auf dem Mittelmeer zurückgedrängt und in die unmenschlichen Konzentrationslager in Libyen zurückgeschickt wurden. Der UNHCR war bisher nicht in der Lage, die libyschen Behörden zu konfrontieren. Er war auch nicht in der Lage, die EU-Mitgliedstaaten zu konfrontieren, die dieses gewalttätige Abkommen zwischen Libyen und Italien finanzieren.“

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Die Demonstration der UNFAIR-Kampagne. © UNFAIR 2022

Unterstützt werden Yambios Berichte von Lam Magok. Auch er findet starke Worte über seine Erfahrungen aus Libyen, die Proteste und mühsame Schutzsuche beim UN-Flüchtlingshilfswerk: „Die Vereinten Nationen schauen nur zu. Es ist ihnen egal, ob du in Libyen bist, oder ob du tot bist, es ist ihnen völlig egal. Aber wir sind Menschen, wir müssen geschützt werden, wir müssen an einem sicheren Ort leben dürfen.“

„Europa ist mitschuldig an der Situation in Libyen, am Leid, an der Folter, an den Morden, den Vergewaltigungen, die in den Haftzentren geschehen.“

Warum sich das transnationale Solidaritätsnetzwerk engagiert, den Protest nach Genf zu bringen, das erklärt Azeb Ambessa: „Europa ist mitschuldig an der Situation in Libyen, am Leid, an der Folter, an den Morden, den Vergewaltigungen, die in den Haftzentren geschehen. Das alles ist Teil des EU-Grenzregimes.“ Es sei wichtig, diese Mitschuld anzuerkennen und den Druck auf den UNHCR gemeinsam zu erhöhen, damit die Forderungen nicht in Libyen verbleiben, sondern auch das Hauptbüro in Genf und ganz Europa erreichen.

Muhammed al-Kashef richtet zum Abschluss der Pressekonferenz noch einmal deutliche Worte an den UNHCR: „Ich würde wirklich gerne wissen, was der UNHCR wirklich tut. Sie stellen Leute ein, sie haben die Kapazitäten, sie geben jedes Jahr Millionen von Euro aus – für nichts. Die Menschen leiden immer noch, sie kämpfen immer noch.”

„Unser Widerstand war erfolgreich. Wir haben es geschafft, die Stimmen der Refugees in Libya zu verstärken und uns Gehör zu verschaffen. „

Während der anschließenden Mahnwache wurde eine Delegation aus Protestierenden, darunter David Yambio und Muhammed al-Kashef schließlich zu Verhandlungen in das Büro des UNHCR eingeladen. Yambio beschreibt seine Überraschung über den Verlauf der Verhandlungen: „Wir waren verwundert, dass sie uns erzählten, sie wissen über alles Bescheid, was in Libyen passiert. Das heißt, dass sie für ihr Versagen beim Schutz von flüchtenden Menschen zur Verantwortung gezogen werden können.“ Er fügt hinzu, dass die Aktivist:innen weiterhin die Situation in Libyen beobachten werden, um das Versprechen des UNHCR, die Situation zu verbessern, zu überprüfen. Al-Kashef ergänzt: „Hoffentlich war es keine rein diplomatische Unterhaltung“, zieht aber doch eine vorsichtig positive Bilanz: „Unser Widerstand war erfolgreich. Wir haben es geschafft, die Stimmen der Refugees in Libya zu verstärken und uns Gehör zu verschaffen.“

Am darauffolgenden Vormittag sind die Aktivist:innen zurück in der eisigen Kälte, um mit Sprechchören und einer Blaskapelle sowie diversen Redebeiträgen nicht nur die Mitarbeitenden des UNHCR, sondern die gesamte Innenstadt zu erreichen: „Libya? Not safe! Libya? Not safe“ schallt es durch die Genfer Gassen. Der nächste Redebeitrag fordert, dass die EU sich nicht wieder und wieder in finanzielle und politische Entscheidungen in Afrika einmischen solle. Der Demonstrationszug zieht weiter: „Hands off of Africa!“ Immer wieder sprechen Geflüchtete und Menschen, deren Angehörige in Libyen leiden. Sie verurteilen die Gewalt und die Untätigkeit der Vereinten Nationen.

„Nächstes Mal werden wir dem UNHCR noch ein bisschen näherkommen und an seine Türe klopfen.“

Es bleibt abzuwarten, wie der UNHCR mit diesen Protesten, wie auch mit allen vorherigen, umgehen wird und ob er versucht, die Kritik auszusitzen. Notwendig wäre, dass das Flüchtlingshilfswerk die Kritik ernst nimmt und sich mit den Demonstrierenden an den Verhandlungstisch setzt. Möglicherweise wird durch die Proteste ein Prozess der Demokratisierung angestoßen, an dessen Ende Flüchtlingen ein Mitbestimmungsrecht über ihre eigene Lebenssituation eingeräumt wird. Damit Menschen in vulnerablen Situationen nicht mehr das Gefühl haben, der UNHCR sei eine unantastbare, allmächtige Institution, in der von Genf aus über ihr Leben bestimmt werde, in der gar politische Spiele mit den Leben Schutzsuchender gespielt werden.

Das kleine weiße Zelt, das vor dem riesigen, von bewaffnetem Sicherheitspersonal bewachten Bürokomplex aufgebaut wurde, könnte der Ausgangspunkt dieses Transformationsprozesses sein. Allen Widrigkeiten zum Trotz haben die Aktivist:innen der Refugees in Libya es geschafft, sich mit machtvollen Worten und Aktionen über zwei Tage hinweg in Genf Gehör zu verschaffen. Und sie kündigten bereits an: „Nächstes Mal werden wir dem UNHCR noch ein bisschen näherkommen und an seine Türe klopfen.“ Aktuell Panorama

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