Auf der Flucht vor den Nazis
Indien war kein einfaches Exilland für jüdische Flüchtlinge
Rund 5.000 Juden aus Europa fanden in Indien Zuflucht vor dem Holocaust. Einer ihrer Helfer war Alfred W. Rosenfeld, geboren in Heilbronn. Dokumente zeigen, dass Rosenfeld immer wieder ermahnt hat, in der Öffentlichkeit und auf der Straße kein Deutsch zu sprechen.
Von Iris Völlnagel Mittwoch, 25.01.2023, 19:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 25.01.2023, 15:11 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Es ist Mitternacht, Ende der 1930er Jahre. In wenigen Minuten wird hier, im Hafen der indischen Metropole Bombay, dem heutigen Mumbai, ein Schiff aus Europa eintreffen. Am Kai wartet ein Mann. Es ist Alfred W. Rosenfeld (1908-1946), ein hochgewachsener Brite. Immer, wenn ein Schiff aus Europa ankommt, ist Rosenfeld hier. Er will sichergehen, dass die jüdischen Flüchtlinge aus Europa an Land gehen können. So bekam Rosenfelds Sohn Peter es von seiner Mutter erzählt und so beschrieb es der – selbst nach Indien exilierte – Publizist Willy Haas.
Selbstverständlich ist es nicht, dass die Flüchtlinge die Schiffe verlassen können. Ohne feste Jobzusage und eine Bürgschaft, die das Auskommen über den gesamten Aufenthalt absichert, sogenannte Affidavite, lassen die Briten seit Frühjahr 1938 keinen mehr von Bord. Als Vertreter der Jewish Relief Association, einem jüdischen Hilfsverein, regelt Rosenfeld die Formalitäten für die Flüchtlinge und sichert den Briten zu, dass die Hilfsorganisation für die Bürgschaften aufkommt. Einer jener, denen Rosenfeld geholfen hat, war Willy Haas. In seinen literarischen Erzählungen berichtet er ausführlich von Rosenfeld.
Indien war kein einfaches Exilland
Schätzungsweise 5.000 Juden haben in Indien Zuflucht vor den Nazis gefunden. Es war kein einfaches Exilland, weiß die österreichische Historikerin Margit Franz. Ohne die Zustimmung der Briten sei keiner ins Land gekommen. Gefragt waren vor allem Menschen mit medizinischen oder technischen Berufen: „Mittellose Flüchtlinge und allein reisende Frauen waren nicht erwünscht.“
Ursprünglich stammt Rosenfeld aus dem württembergischen Heilbronn. Als 20-Jähriger schickt ihn sein Arbeitgeber, der jüdische Textilunternehmer Walter Wolf, als Handelsvertreter nach Bombay. Das war 1928. Rosenfeld wird britischer Staatsbürger. Als erste jüdische Flüchtlinge aus Europa nach Indien kommen, gründet er zusammen mit einigen Männern der Jüdischen Gemeinde die Hilfsorganisation Jewish Relief Assocation. Rosenfeld wird eines der führenden Mitglieder.
Kein Deutsch in der Öffentlichkeit
„In Bombay waren einige Juden sehr wohlhabend wie die Sassoons zum Beispiel. Am Anfang haben sie große Geldmengen für die Bürgschaften zur Verfügung gestellt“, erzählt Franz. Später sei die Jewish Relief Association immer mehr zur Selbsthilfeorganisation geworden, die Spenden sammelt und versucht, Kinder in Schulen und Kindergärten unterzubringen oder den Leuten Arbeitsplätze zu besorgen.
Für viele der Flüchtlinge ist es nicht einfach, sich in Indien eine neue Existenz aufzubauen. Dokumente zeigen, dass Rosenfeld sie immer wieder ermahnt hat, in der Öffentlichkeit und auf der Straße kein Deutsch zu sprechen.
Bombay kein sicherer Ort für jüdische Flüchtlinge
„Bombay war für die jüdischen Flüchtlinge kein sicherer Ort“, erklärt die Historikerin. „Die Auslandsorganisation der NSDAP war hier sehr stark. Die haben sehr viele Protokolle und Dateien von Flüchtlingen geführt und ihnen gedroht, dass, wenn sie auffällig oder zu antideutsch werden, ihre Familien in Deutschland gefährdet wären. Es hat in Bombay auch sehr heftige Agitation gegeben. Es gibt Berichte von Aufmärschen zu Hitlers Geburtstag.“
Als Manager reist Rosenfeld viel. Als sein Sohn Peter Jahre später den Pass seines Vaters findet, erstaunt ihn, wie häufig sein Vater nach der Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 noch in Deutschland und Österreich war. „Der letzte Eintrag stammt von 1938. Mit seinem britischen Pass reiste er auch immer nach Deutschland und Österreich, wenn er in Europa war“, sagt der heute 86-Jährige, der in Großbritannien lebt.
Juden und deutsche Nationalsozialisten in indischen Lagern
Mit Kriegsbeginn 1939 werden in Indien alle Deutschen interniert, egal, ob Flüchtling oder nicht. In den Lagern treffen die Juden auf deutsche Nationalsozialisten. „Die haben sich auch in der Internierung ganz stark organisiert. Dort haben sie Dateien von ihren Mithäftlingen geführt, und es hat auch viele Drohungen sowie verbale Aggression und Übergriffe gegeben“, sagt die Historikerin Franz. Rosenfelds Sohn Peter erzählt: „Mein Vater reiste in die Camps und nach Neu-Delhi, wo die Briten ihren Regierungssitz hatten, um dort zu intervenieren, dass die Flüchtlinge freigelassen werden.“ Wohl mit Erfolg, wie er nach eigenen Angaben aus Erzählungen von Flüchtlingen weiß.
Im Juni 1946 reist Alfred Rosenfeld geschäftlich nach New York. Seiner Familie schreibt er, wie sehr er sich auf ein Wiedersehen freue. Dazu wird es nicht kommen. Auf dem Rückweg erleidet der 38-Jährige einen Herzinfarkt und stirbt. Seine Frau und sein neunjähriger Sohn ziehen nach Großbritannien. Auch viele der geflüchteten Juden verlassen Indien Richtung USA, Palästina oder Australien. 1947 wird Indien unabhängig. Jahrelang habe die Familie noch Post von Menschen aus aller Welt bekommen, denen Rosenfeld geholfen habe, sagt Sohn Peter. Heute erinnert nur noch der Jüdische Friedhof Chinchpokli im Herzens Mumbais an die Juden im indischen Exil. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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