Mazin wieder frei
15-jähriger Geflüchteter aus libyschem Gefängnis entlassen
Der 15-jährige Mazin, der auf seiner Flucht nach Europa von libyschen Milizen entführt und verhaftet wurde, ist endlich wieder frei. Sein Fall steht stellvertretend für das Schicksal vieler Geflüchtete in dem vom Bürgerkrieg gebeutelten Land. Im Gegensatz zu vielen hatte Mazin Glück: Ein Netzwerk setzte sich für seine Freilassung ein.
Von Sarah Spasiano Montag, 06.02.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 06.02.2023, 15:26 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Nachdem er fast vier Monate lang erst von libyschen Menschenhändlern entführt und dann unrechtmäßig in Polizeigewahrsam gehalten und körperlich und mental misshandelt wurde, ist der 15-jährige Mazin wieder frei und mit seiner Familie vereint. Nachdem über Monate hinweg 18 Gerichtstermine verschoben wurden, konnte der Junge dank der Unterstützung einer libyschen Menschenrechtsorganisation Ende Januar endlich vor einen Richter gebracht werden, der seine sofortige Freilassung anordnete. Die vorherigen Gerichtstermine konnten nicht stattfinden, weil Mazin entweder nicht zu den Terminen gebracht wurde oder jeweils kurz vorher in ein anderes Gefängnis verlegt wurde. Zuletzt war er im Gefängnis Alahdath Tajoura außerhalb der Hauptstadt Tripolis inhaftiert. Was ihm vorgeworfen wurde, ist bis heute unklar.
Mazin kommt aus dem Sudan und lebt mit seinem Vater und seinen drei Geschwistern in Libyen, seit sie nach dem Tod der Mutter aus der Kriegsregion Darfur geflüchtet waren. Die Situation für Geflüchtete in Libyen wird seit Jahren immer schwieriger, viele berichten von Entführung, Versklavung, unvorstellbarer Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. In dieser Situation ist Mazin auch nach seiner Freilassung nicht in Sicherheit. Zumal seine Familie noch immer Drohungen von den Milizen erhält, die ihn entführten.
Entführt und verhaftet
Im August 2022 verschwand Mazin auf dem Heimweg von der Werkstatt, in der er arbeitete. Bald bestätigten sich die Befürchtungen seiner Familie: Mazin war von einer bewaffneten Miliz entführt worden. In den sozialen Netzwerken tauchte ein Video auf, das zeigt, wie der Junge mit dem Tode bedroht, geschlagen und gefoltert wird. Die Entführer verlangen ein hohes Lösegeld von der Familie – ein häufiges Geschäftsmodell für Milizen und Warlords im libyschen Bürgerkrieg. Freund:innen der Familie, darunter viele Aktivist:innen der Protestbewegung „Refugees in Libya“ und deren Unterstützer:innen in Europa setzten sich vor Ort und online für ihn ein. Sie wollen, dass das lokale Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) Verantwortung dafür übernimmt, dass Mazin und seine Familie Gerechtigkeit erfahren.
Nach einigen Wochen fanden libysche Polizeibehörden den Ort, an dem Mazin festgehalten wurde – doch anstatt ihn zu befreien und die Entführer zu verhaften, wurde Mazin inhaftiert, während seine Entführer davonkamen. Mit bis heute unklaren Vorwürfen wurde der 15-Jährige über Monate hinweg festgehalten, immer wieder in verschiedene Gefängnissen verlegt – eine übliche Taktik von libyschen Behörden, um Personen schwerer auffindbar zu machen. Dabei wurde Mazin weiterhin mental wie auch körperlich misshandelt, musste sogar schwere körperliche Zwangsarbeit leisten. Als sein Vater bei der libyschen Polizei die Freilassung seines Sohnes verlangte, wurde auch er für kurze Zeit inhaftiert. Die drei anderen Kinder waren in dieser Zeit auf sich selbst gestellt und wurden von Freund:innen der Familie aufgenommen. Menschenrechtsaktivist:innen in Libyen vermuten, die Behörden versuchten den Fall zu vertuschen und setzten deshalb Mazins Vater unter Druck.
Die Familie gab trotz der Repressionen nicht auf. Anfang Januar standen Mazins Vater und Geschwister wieder vor dem Büro des UNHCR in Tripolis und forderten mit Plakaten in den Händen seine Befreiung: „Free our child Mazin“. Unterstützung erhielten sie dort nicht – stattdessen teilte der UNHCR mit, die Proteste seien illegal und für den Fall, dass die Familie deswegen von der libyschen Polizei verhaftet werde, könne man nichts für sie tun. Gleichzeitig wurde der Gerichtstermin, bei dem Mazins Fall verhandelt werden sollte, erneut verschoben, da die zuständige Behörde ihn nicht zum Gericht brachte. Der 18. angesetzte Gerichtstermin verstrich.
Solidarität mit Mazin und seiner Familie
Dass Mazin trotzdem am 23. Januar frei kam, war nur dadurch möglich, dass ein starkes Netzwerk von Unterstützer:innen sich für den Jungen einsetzte. Direkte Unterstützung erhielt die Familie von Freund:innen in Tripolis. Viele von ihnen sind Menschenrechtsaktivist:innen, denn Mazin und seine Familie sind Teil der Protestbewegung von Geflüchteten in Libyen, den „Refugees in Libya“, die für die Einhaltung grundlegender Menschenrechte für Geflüchtete in Libyen kämpfen.
Die Freund:innen vor Ort suchten wochen- und monatelang nach dem Jungen, sprachen immer wieder beim UNHCR vor, um die Mitarbeitenden um Unterstützung zu bitten und kümmerten sich auch um die Familie, die von den zuständigen Institutionen vernachlässigt wurde. Das Netzwerk der „Refugees in Libya“ streckt sich aber weit über Libyen hinaus und so waren Plakate mit Mazins Gesicht und der Forderung #FreedomForMazin bei Demonstrationen in Genf, Berlin, Brüssel, Rom und London präsent. Auch online ging die Kampagne zur Unterstützung von Mazin und seiner Familie weiter.
Durch die Vermittlung von Aktivist:innen in Rom gelang es schließlich, die libysche Menschenrechtsorganisation „Observatory on Gender in Crisis“ dafür zu gewinnen, sich für Mazin einzusetzen. Anwält:innen der Organisation konnten den zuständigen Richter auf den Fall aufmerksam machen und so erreichen, dass Mazin am 23. Januar 2023 endlich bei Gericht erscheinen konnte. Der Richter ordnete an, den Jungen sofort freizulassen. Seine Entführer sind weiterhin auf freiem Fuß. Seit dem 23. Januar ist Mazin nun wieder mit seiner Familie vereint. Auf den ersten gemeinsamen Familienfotos seit der Entführung sieht der Junge ernst und erschöpft aus, während seine Geschwister und sein Vater in die Kamera strahlen. Die Erleichterung ist jedoch allen deutlich anzumerken.
Trotz aller Freude über Mazins Befreiung, ist die Familie allerdings noch nicht in Sicherheit. Dieselben Milizen, die Mazin entführt hatten, schicken der Familie Drohbotschaften. Sie versuchen, die Berichterstattung über den Fall zu verhindern und drohen mit einer erneuten Entführung von Mazin oder seinen Geschwistern. Auch die Lebenssituation der Familie ist unsicher: Wegen der Drohungen mussten sie ihr Haus verlassen und bei Freund:innen unterkommen, da sie die benötigte Unterkunft nicht vom UNHCR erhalten. Zudem kann die dringend notwendige medizinische und psychologische Versorgung von Mazin vor Ort nicht sichergestellt werden. Die Aktivist:innen der „Refugees in Libya“ sehen keine andere Möglichkeit als die Evakuierung der Familie zu fordern: Mit der Forderung #EvacuateMazin geht die Unterstützungskampagne weiter.
Flüchtende auf dem Weg durch Libyen
Nach Schätzungen des UNHCR leben aktuell etwa 45.000 registrierte Asylsuchende in Libyen. Betroffene berichten allerdings von großen Problemen und Verzögerungen bei der Registrierung – die tatsächliche Zahl liegt also weitaus höher. Die Situation in dem Bürgerkriegsland ist unberechenbar, gewaltsam und insbesondere Geflüchtete haben dort kaum Rechte. Viele berichten von grausamen Menschenrechtsverletzungen und mangelnder Unterstützung durch das UN-Flüchtlingshilfswerk. Evakuierungen von Geflüchteten in sichere Drittstaaten finden kaum statt – in Europa richtete Italien als einziges Land einen humanitären Korridor ein, über den seit 2017 knapp 1.000 Menschen entkommen konnten, das entspricht ca. 2 Prozent der registrierten Asylsuchenden in Libyen.
Die Situation von Geflüchteten in Libyen entwickelte sich im Laufe der letzten Jahre erst zu der Hölle, wie Betroffene immer wieder beschreiben: Nach den Aufständen und dem Sturz Gaddafis 2011 brach dort ein Bürgerkrieg aus, der bis heute schwelt. Besonders vulnerable Personen, zu denen Asylsuchende oft gehören, leiden unter den Auswirkungen. Zwischen den beiden miteinander konkurrierenden Regierungen kommt es immer wieder zu aggressiven Auseinandersetzungen. Darüber hinaus ist eine große Zahl bewaffneter Milizen und Warlords in Libyen aktiv, die entweder auf der Seite einer der beiden Regierungen stehen oder autonom agieren. Die Situation ist instabil und unvorhersehbar und das Leid der libyschen Bevölkerung entlädt sich immer wieder in Hass und Gewaltverbrechen gegenüber Migrant:innen.
Europäische Externalisierungspolitik
Es ist kein Zufall, dass gerade das Bürgerkriegsland Libyen auf einer der wichtigsten Fluchtrouten liegt, die von ost- und westafrikanischen Staaten und teilweise aus dem Nahen Osten nach Europa führt. Im Zuge von Abschottungsbemühungen der EU sind bilaterale Abkommen mit den meisten nordafrikanischen Mittelmeerstaaten entstanden, so auch das Memorandum zwischen Italien und Libyen. Darin verpflichten sich diese Staaten dazu, Migrant:innen aufzuhalten – an ihren südlichen Landgrenzen ebenso wie im Mittelmeer, wo Abfahrten von Flüchtlingsbooten mit teilweise lebensgefährlichen Manövern gestoppt werden (sogenannte Pullbacks). Im Gegenzug erhalten sie finanzielle Zahlungen und andere Vorteile, beispielsweise bei der Visavergabe für europäische Staaten.
Die von der EU seit Jahren betriebene Externalisierungspolitik verschiebt die europäische Außengrenze de facto immer weiter nach Süden, bis weit in den afrikanischen Kontinent hinein. Aufgrund seiner politischen Instabilität bietet Libyen unter den afrikanischen Mittelmeerstaaten die meisten ‚Lücken‘ in dieser vorgezogenen Grenze. Libyen wird daher trotz des hohen Risikos und der allgegenwärtigen Gewalt der einzig mögliche Fluchtweg. Dass so viele Flüchtende unter katastrophalen Bedingungen in Libyen feststecken, ist eine Folge europäischer Externalisierungspolitik.
Vor unserer Haustüre
Das UN-Flüchtlingshilfswerk soll sich laut seinem Mandat für den Schutz von Flüchtenden und Asylsuchenden einsetzen. Die mangelhafte Versorgung von Schutzsuchenden in Libyen durch den UNHCR führt allerdings zu einer Verschlechterung der Lage vor Ort. Der UNHCR kritisiert vereinzelt das Vorgehen der EU, die repressive Regime stützt, um Fluchtwege nach Europa abzuschneiden. Betrachtet man konkrete Einzelfälle, wie den von Mazin, wird auch hier deutlich, wie wenig Unterstützung Geflüchtete vom UNHCR erhalten.
Die „Refugees in Libya“ fordern deshalb eine grundlegende Reform der Agentur und die Evakuierung aller Geflüchteten aus Libyen. Denn Mazin ist nur einer von vielen, die in Libyen grausamen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Die meisten dieser Fälle, die sich direkt vor der Haustüre der EU ereignen, erscheinen nie in der europäischen Presse und erreichen die europäische Öffentlichkeit nicht. Aktuell Ausland
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