Grenzräume
Von Lützerath zum Mittelmeer – Eine Kritik der Gewalt
Ob an Grenzen oder im Inland, das Jahr war bisher ein gewalttätiges und der Staat, seine Apparate und Sicherheitskräfte, prügelten heiter drauflos. Es ist Zeit für eine Kritik der Gewalt.
Von Lukas Geisler Sonntag, 12.02.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 12.02.2023, 14:37 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Das Jahr war kaum einen Monat alt, da häuften sich schon wieder die Fälle von staatlicher Gewalt gegenüber von Menschen. Angefangen bei der Räumung des von Klimaaktivist:innen besetzten Dorfes Lützerath, die in Gewaltexzessen vonseiten der staatlichen Ordnungskräfte endete, hin zu fast 100 Toten Menschen in 30 Tagen, die beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren verschwunden sind oder vermisst werden. Halt, ist das staatliche Gewalt? Darüber lässt sich streiten.
Worüber man nicht streiten kann, sind die inoffiziellen, geheimen und illegalen Gefängnistransporten auf Fähren, die zum Teil über 30 Stunden dauern. Nach Recherchen von Monitor werden Asylsuchende wohl systematisch auf Fähren zwischen Italien und Griechenland gefangen gehalten und zurückgeschickt. Ein Geflüchteter berichtete folgendes: „Auf der Fähre steckten sie mich dann in einen Raum. Er war sehr dunkel, es gab keine Matratze und kein Kissen, kein Bett, und wir bekamen kein Essen und kein Wasser.“
Keine Einzelfälle
Ob nach rassistischen Polizeimorden, der Gewalt des sogenannten Grenzschutzes oder rasenden Horden von Sondereinsatzkommandos aus ganz Deutschland in Lützerath, die liberale Öffentlichkeit spricht dann gerne von Einzelfällen. Rasende Horden von Sondereinsatzkräften? Ja, wer die Videos gesehen hat, sieht, dass sich die Vertreter:innen eher mit Schlamm als mit Ruhm bekleckert haben. Ob an der Grenze oder im Inland, die staatliche Gewalt hat System.
Dabei lässt sich strafrechtlich zweierlei unterscheiden: Zum einen gibt es die staatliche Gewalt, die mit dem Gewaltmonopol des Staates – zumindest juristisch – legitimiert wird. Zum anderen gibt es die staatliche Gewalt, die über die Grenze des erlaubten hinaus geht. Wenn zweiteres passiert, wird dies gerne als Einzelfall benannt. Hinzu kommt allzu oft sogenanntes polizeiliches Versagen, dass – das hat nur anekdotische Evidenz – vermehrt vorkommt, wenn migrantisierte Menschen Opfer rechtsextremer Täter werden – von rassistischen polizieren ganz zu schweigen.
Zwei Seiten derselben Medaille
Nun impliziert die Überschrift der Kolumne eine zumindest im ersten Moment steile These. Ich behaupte, dass es eine Verbindung zwischen der Gewalt an den Grenzen und der Gewalt gegen Klimaaktivist:innen gibt. Eine Gewalt, die im Auftrag des Staates ausgeht. Des Weiteren würde ich so weit gehen zu behaupten, dass beide Arten von staatlicher Gewalt – legitim oder illegitim – zwei Seiten derselben Medaille sind.
„Denn ich bin der Auffassung, dass die Gesetzesüberschreitungen etwas über Inhalt, Form und Funktionsweise von staatlicher Gewalt offenlegen.“
Beides ist zu Recht erklärungspflichtig. Um dieser Pflicht zur Klärung nachzukommen, werde ich die genannten Fälle von staatlicher Gewalt nacheinander durchgehen und schließlich das Nachdenken auf einer strukturellen Ebene zu ermöglichen. Denn ich bin der Auffassung, dass die Gesetzesüberschreitungen etwas über Inhalt, Form und Funktionsweise von staatlicher Gewalt offenlegen. Und das dann wiederum Aufschluss darüber gibt, warum jegliche staatliche Gewalt abzulehnen ist. Nicht zuletzt sei noch angemerkt – das erscheint mir fast schon zu offensichtlich –, dass es eine Verbindung zwischen fossiler Energieproduktion und dem europäischen Grenzregime existiert.
Die Schlammschlacht vor Lützerath
Beginnen wir mit den Fakten: Unter Lützerath liegen 280 Millionen Tonnen Braunkohle. Das ist sechsmal so viel, wie wir maximal für die Stromerzeugung nutzen dürfen, damit wir das 1,5-Grad-Ziel noch einhalten können. Das macht Lützerath – auch noch heute – zu mehr als nur einem symbolischen Ort. Lützerath hätte zu einem Moment des klimapolitischen Aufbruchs werden können. Es wurde zu einem verheerenden Signal.
„Lützerath hätte zu einem Moment des klimapolitischen Aufbruchs werden können. Es wurde zu einem verheerenden Signal.“
Die Bundesregierung stellte sich schützend vor die Profitinteressen von RWE, dem größten CO₂-Produzenten in Europa, und ließ dabei die staatlichen sogenannten Sicherheitsbehörden auf Menschen, die für ein Recht auf Leben – für sich und für zukünftige Generationen – eintraten, einprügeln. Dabei schreckten die eingesetzten Sondereinsatzkräfte nicht vor Gesetzesverstößen zurück. Die regierende Politik schaute weg, legitimierte oder lobte das Vorgehen.
Auch die Journalist:innen Gewerkschaft zog eine negative Bilanz bezüglich der Pressefreiheit. Die Schlammschlacht vor Lützerath legt offen, was polizeiliches Handeln eigentlich immer ist, nämlich Gewalt – oder zumindest angedrohte Gewalt, wenn sich Menschen nicht beugen. Dabei verschwimmen Ordnung und Willkür, wie das Beispiel Lützerath eindeutig zeigt.
Und anderenorts?
Dabei ist zu betonen, dass die Klimakrise, die durch die fossile Energieproduktion hervorgerufen wird, schon heute katastrophale Folgen für Millionen von Menschen hat – vor allem anderenorts. Das Konzept der imperialen Lebensweise veranschaulicht eindrücklich, dass wir auf Kosten anderer Leben. Entscheidend für den Lebensstandard, den wir haben, ist, dass wir anderorts Gesellschaften und Natur ausbeuten, aber auch dass sich durch unsere fossile Energieproduktion anderenorts Menschen die Folgen der Klimakrise zu spüren bekommen.
„Um unseren Lebensstandard zu sichern und die globalen Ungleichheitsverhältnisse aufrechtzuerhalten, baut die EU seit zwei Jahrzehnten daran, die Mauern unüberwindbar zu machen.“
Um unseren Lebensstandard zu sichern und die globalen Ungleichheitsverhältnisse aufrechtzuerhalten, baut die EU seit nun mehr zwei Jahrzehnten daran, die Mauern unüberwindbar zu machen. Ob die de jure Mauern durch die Kriminalisierung von Seenotrettung auf dem Mittelmeer oder die de facto Mauern an den Außengrenzen, wie in Ungarn, Griechenland oder Polen, macht dabei keinen Unterschied.
Geheime Gefängnisse
Da wären wir auch schon beim zweiten Beispiel. Nach jahrelangen Pushbacks, Pullbacks, Lagern auf den griechischen Inseln und ertrinkender Menschen stellen die geheimen Gefängnistransporte auf Fähren eine neue, scheußliche Praktik des Grenzregimes dar. Teils sind diese Grenzpraktiken legalisiert, teils nicht. Aber was macht das für einen faktischen Unterschied für die Menschen, gegen die sie gerichtet sind?
Erst im Dezember legten ebenfalls eine Recherche von Monitor offen, dass Sicherheitskräfte entlang der EU-Außengrenze in Bulgarien, Ungarn und Kroatien geheime Orte nutzen, um Flüchtlinge gefangenzuhalten. Oft werden die Schutzsuchenden dabei misshandelt, bevor sie über die Grenze zurückgezwungen werden. Auf Aufnahmen ist zu sehen, wie mehrere Menschen von Abfall umgeben auf dem Boden ausharren müssen, bis sie weggefahren werden. Auch bekannt wurde, dass Beamt:innen der EU-Agentur Frontex davon wissen oder beteiligt sind.
Deutungshoheit überlegt dem Staat
„Die Gewalt, um die fossile Energieproduktion voranzutreiben, und die Gewalt der Grenzpolitik der EU stehen dabei in einer – nicht mehr so geheimen – Komplizenschaft.“
Die Gewalt, um die fossile Energieproduktion voranzutreiben, und die Gewalt der Grenzpolitik der EU stehen dabei in einer – nicht mehr so geheimen – Komplizenschaft. Bei der einen wird die Lebensgrundlage von Millionen von Menschen gefährdet. Die andere Gewalt verhindert, dass die, deren Lebensgrundlage zerstört werden, in das Zentrum der Zerstörung flüchten können. In beiden Fällen wird diese Gewalt ignoriert, geleugnet oder gutgeheißen – und zwar von denen, die diese staatliche Gewalt in einer parlamentarischen Demokratie eigentlich kontrollieren sollten.
Ob in Lützerath oder auf dem Mittelmeer: Vor allem im Staat oder in dessen Apparaten und Institutionen liegt die Deutungshoheit über legitime Gewalt. Auch in unseren alltäglichen Erfahrungen können wir dies beobachten. Auf der anderen Seite wäre es naiv zu leugnen, dass die Gewalt nicht an eine – wenn auch prekäre – parlamentarisch-demokratische Legitimation rückgebunden ist.
Gewalt ist Gewalt
„In diesen zwei benannten Fällen wird allerdings deutlich, dass diese, wenn auch prekäre, Rückbindung an eine parlamentarische Kontrolle nicht greift – vielleicht gar nicht greifen soll.“
Gewalt ist in parlamentarischen Demokratien theoretisch keine restlos entgrenzte Willkür. Recht gilt zumindest auf formaler Ebene in Gesetzesform für alle Staatsbürger:innen gleich und auch Strafen müssen durch Gerichte verhängt werden, gegen die gewisse Berufungs- und Revisionsmöglichkeiten bestehen. In diesen zwei benannten Fällen wird allerdings deutlich, dass diese, wenn auch prekäre, Rückbindung an eine parlamentarische Kontrolle nicht greift – vielleicht gar nicht greifen soll.
Gibt es also überhaupt die formal klar zu definierende Unterscheidung zwischen legitimier und illegitimer (staatlicher) Gewalt in der Praxis? Die erlittene Gewalt und in Bezug auf sekundäre Gewalt durch die Klimakrise ist für die Menschen, die sie zu spüren bekommen, die gleiche. Wer 30 Stunden auf deiner Fähre ohne Wasser, Essen und Bett in Ketten verbringen muss, ist es egal, dass es eigentlich nicht legitimierte Gewalt ist.
Wenn ein Gericht irgendwann entscheidet, dass die Gewaltexzesse in Lützerath gerechtfertigt waren, dann ist ein ausgeschlagener Zahn trotzdem ein ausgeschlagener Zahn. Von den gewaltigen und gewalttätigen Folgen der Klimakrise ganz zu schweigen.
Zone der Ununterscheidbarkeit
Im Endeffekt komme ich also zu dem Schluss, dass es Gewalt, die von staatlichen Apparaten, Behörden oder Sicherheitskräften ausgeht, gerade dann, wenn Überschreitung der Grenze zu legitimer Gewalt ungeahndet bleibt, immer in einer Zone der Ununterscheidbarkeit endet. Gewalt bleibt eben Gewalt, ob legitim oder illegitim. Die Deutungshoheit obliegt dem Staat, auch wenn die eigenen Apparate über die gesteckten Grenzen hinausgehen.
„Radikal ausgedrückt kann nur die Abschaffung aller Gewalt als legitimes Ziel gelten.“
Am Ende verbleiben es – trotz oder gerade wegen der prekären parlamentarischen Rückbindung – politische Entscheidungen, die über den Einsatz von Gewalt entscheiden. Doch wenn die Grenzen, was gerechtfertigt ist oder nicht, verschwimmen – vielleicht sind sie auch schon immer verschwommen gewesen – wirft das ein klares Licht darauf, ob ein Staat überhaupt Gewalt anwenden dürfen sollte. Radikal ausgedrückt, kann nur die Abschaffung aller Gewalt als legitimes Ziel gelten. Dafür muss die Spirale der Gewalt – einmal und für immer – durchbrochen und alternative, transformative Wege des Zusammenlebens erörtert werden, um vorhandene gesellschaftliche Konflikte austragen zu können.
MeinungDer Kommentar ist eine Fortführung eines Aufrufes: Für ein konsequentes Eintreten gegen jede Gewalt. Für die Abschaffung aller Grenzen – Für einen Grenz-Abolitionismus!
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Lieber, geschätzter Lucas Geisler
Meine These ist, dass ohne Klimawandel, oder auch vor seiner Akzeptanz, die staatliche Gewalt vergleichbar ist, mit der aktuell Erfahrenen.
Als Christian mir vor 25 Jahren vom Klimawandel erzählte, war meine Antwort, dass es auch wieder eine Eiszeit gäbe, weil mir bewusst war, dass neokolonialistische Interessen niemals aufgegeben würden, wenn es um die nackte Existenz ginge.
Die „nackte Existenz“ bedeutet im eurozentrischen Sinne, das Streben nach Wohlstand oder dessen Sicherung.
Die Außengrenzen-Sicherung Europas entspricht repräsentativ, demokratisch dem Mehrheits-Willen der Europäer.
Klein-Klein können wir FRONTEX vielleicht ändern!?
Klein-Klein können wir vielleicht Schutzsuchenden einen sicheren Ort geben!
Aber Millionen Einheiten von Wohnraum jetzt zu planen, für den Zeitraum nach dem gescheiterten Klimaziel; das überschreitet „unser“ Vorstellungsvermögen.
Und damit sind wir wieder vor dem Bewusstsein des Klimawandels.
Wievielen haben wir wirklich geholfen vor dem „Klimawandel“?
Tägliches Einkommen von 2 $ auf 4 $ erhöht? Bravo!
Wieviel von jedem $ haben „wir“ verdient?
Rassimus als Außengrenzenschutz, Wohlstandssicherung als Außengrenzenschutz und Massenpsychologie als Innengrenzenschutz!
Ich bin dennoch ganz fest überzeugt, dass sich in ein paar hundert Jahren alles lösen lässt, wenn es dann nicht zu spät ist.