Diagnose
Zeitenwende bei der Antidiskriminierungspolitik?
Neue Erhebungen zufolge stehen wir in der Antidiskriminierungspolitik vor einem Paradigmenwechsel. Die Änderung ist in der Gesellschaft bereits sichtbar, doch es gibt auch Widerstand. Fazit?
Von Ulrich Kober Mittwoch, 03.05.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03.05.2023, 12:12 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
In den letzten 15 Jahren hat sich die Wahrnehmung von Diskriminierung in Deutschland stark verändert. Zwei markante Beispiele: Mehr Menschen interessieren sich für das Thema Gleichbehandlung (77 Prozent und damit plus 14 Prozentpunkte gegenüber 2008), und mehr Personen meinen, dass etwas gegen Diskriminierung von Menschen unternommen werden muss, die als fremd oder nicht weiß wahrgenommen werden (70 Prozent, plus 27 Prozentpunkte).
Die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman sieht in dieser Entwicklung eine „Zeitenwende“ im Umgang mit Ungleichbehandlung in Deutschland. Möglicherweise kündigt sich hier eine grundlegende Veränderung an im Sinne eines Paradigmenwechsels in der Gesellschaft.
Davon spricht explizit in seinen Gesellschaftsanalysen der Soziologe Andreas Reckwitz1. Demnach erleben wir zurzeit einen Wandel von einem deregulierten („apertistischen“) zu einem regulierenden („einbettenden“) Liberalismus: Seit den 1980er Jahren dominierte ökonomisch der Neoliberalismus und kulturell der Linksliberalismus, seit den 2020er Jahren könnte sich ein neues Paradigma ökonomischer Regulierung und kultureller Ordnungsbildung herausbilden. Grund dafür sei eine „Überdynamisierungskrise“ mit ökonomischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen und Ungleichheiten, gegen die sich immer stärkerer Widerstand regt.
„Diskriminierung kann als Ausdruck eines Dominanzverhaltens verstanden werden, in dem unregulierte Spielräume genutzt werden, Personen in willkürlicher Weise ungleich zu behandeln und zu benachteiligen.“
Vor diesem Hintergrund kann Diskriminierung als Ausdruck eines Dominanzverhaltens verstanden werden, in dem unregulierte Spielräume genutzt werden, Personen in willkürlicher Weise ungleich zu behandeln und zu benachteiligen: aus Gründen des Geschlechts, der Herkunft oder rassistischer Zuschreibungen, des Alters, der Behinderung, der sexuellen Identität oder des Einkommens.
Das Vorgehen gegen diese Benachteiligungen wird von manchen als übertriebene „Identitätspolitik“ abgetan, im Kern geht es dabei aber nicht um Identitäten, sondern um sozioökonomische Ungleichheit, die Menschen an der gleichberechtigten Teilhabe in der Gesellschaft hindert. So verstanden könnte eine konsequentere Antidiskriminierungspolitik ein Indikator für den neuen „einbettenden“ Liberalismus sein, der diejenigen einschränkt, die sich die Freiheit nehmen, andere willkürlich abzuwerten, zu benachteiligen und auszuschließen.
„Von einem Paradigmenwechsel kann nur dann gesprochen werden, wenn er milieuübergreifend weite Teile der Gesellschaft erfasst.“
Allerdings, darauf macht Reckwitz aufmerksam, kann von einem Paradigmenwechsel nur dann gesprochen werden, wenn er milieuübergreifend weite Teile der Gesellschaft erfasst. Wenn 88 Prozent Antidiskriminierung für eine wichtige Aufgabe der Politik halten, wenn Zweidrittel der Befragten glauben, dass Antidiskriminierungspolitik sich langfristig für alle gut auswirkt und acht von zehn gesellschaftlichen Milieus mehrheitlich dieser Ansicht sind, dann scheint sich beim Umgang mit Diskriminierung tatsächlich Grundlegendes geändert zu haben.
Aber trotzdem ist eine gewisse Vorsicht bei einer solchen Diagnose geboten: Denn weiterhin sind beispielsweise 30 Prozent in Deutschland der Ansicht, Antidiskriminierungspolitik sei überflüssig. Widerstände sind also weiter wahrscheinlich. Sie zeigen zwar implizit, dass Veränderung tatsächlich vorankommt, machen aber auch deutlich, dass die Rede von einer Zeitenwende oder einem Paradigmenwechsel kein Automatismus ist, der Politik überflüssig macht.
„Handlungsbedarf ist reichlich vorhanden, denn von einer wohnortnahen Infrastruktur von Informations- und Beratungsstellen für Betroffene ist Deutschland noch weit entfernt.“
Handlungsbedarf ist reichlich vorhanden, denn von einer wohnortnahen Infrastruktur von Informations- und Beratungsstellen für Betroffene ist Deutschland noch weit entfernt: bisher steht einer Million Menschen im Land nicht einmal eine Vollzeitstelle für Beratung gegenüber, so der letzte Jahresbericht der ADS. Wirksamer Rechtsschutz ist notwendig, aber nicht hinreichend, um ein möglichst diskriminierungsfreies Klima in der Gesellschaft zu schaffen: Dazu braucht es auch Präventionsarbeit in Bildungseinrichtungen, Behörden und Unternehmen.
Die Bevölkerung scheint hier schon weiter zu sein als die bisherige Politik. Zeitenwende hin, Paradigmenwechsel her: Es gibt Rückenwind für eine konsequente und kluge Antidiskriminierungspolitik.
- Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp 2019
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