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Flüchtlingspolitik

Migrationsexperte fordert Abkehr vom Notfallmodus

Migrationsforscher Oltmer stellt der deutschen Flüchtlingspolitik ein schlechtes Zeugnis aus. Die Gründe erklärt er im Gespräch und fordert eine Abkehr vom Dublin-System.

Von Donnerstag, 01.06.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 01.06.2023, 13:38 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer sieht viele Versäumnisse in der deutschen und europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik. Aktuelle Vorschläge wie etwa zu beschleunigten Abschiebungen seien ebenso alt wie unrealistisch, sagte der Historiker am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück im Gespräch. Er fordert eine Migrationsunion und eine Abkehr vom Dublin-System.

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Wie können Bund, Länder und Kommunen es schaffen, die erneut steigende Zahl von Geflüchteten angemessen zu versorgen?

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Jochen Oltmer: Das regelmäßige Zusammenkommen in sogenannten Gipfelgesprächen zu dieser Frage ist aus meiner Sicht problematisch. Wir reden über sehr viele Jahre hinweg von Flucht, Asyl und der Aufnahme von Schutzsuchenden. Wir haben die Erfahrung von 2015 gemacht. Und immer noch braucht es solche Gipfelveranstaltungen? Es müsste stattdessen einen steten Kommunikationskanal zwischen Bund, Ländern und Kommunen geben, um abzustimmen, wie mit den Schutzsuchenden umgegangen werden soll. Notwendig wären reguläre, vielfältig abgestimmte Finanzierungswege, statt immer wieder über Notfallhilfen zu verhandeln. Dann könnten die Kommunen auch mehr Kapazitäten für die Unterbringung vorhalten.

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Wie müsste eine funktionierende Flüchtlings- und Asylpolitik innerhalb der Europäischen Union aussehen?

Jochen Oltmer: Die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik befindet sich seit Jahren in einer Sackgasse.  Diskussionen, wie sie aktuell geführt werden, etwa über die Verlagerung von Asylverfahren an die europäischen Außengrenzen oder über beschleunigte Abschiebungen, sind mindestens 20 Jahre alt. Bei denen ist schon von Beginn an klar, dass sie sich nicht umsetzen lassen. Das ist gewissermaßen eine Simulation von Politik.

Abschiebungen sind ausgesprochen schwierig, weil viele Länder die Menschen nicht zurücknehmen, die Betroffenen keine Papiere haben oder die Lage in den Herkunftsländern aktuell zu gefährlich ist. Abschiebungen in der Zahl, wie sie hierzulande für nötig angesehen werden, sind nicht realisierbar. Es wäre an der Zeit, das auch öffentlich zu sagen.

Wie könnten die Staaten zu einer funktionierenden Verteilung für Flüchtlinge kommen?

Jochen Oltmer: Dafür gilt dasselbe wie für Abschiebungen. Der sogenannte Solidaritätsmechanismus ist seit 30 Jahren Thema. Aber alle Beteiligten wissen, dass es Solidarität in diesem Bereich nicht geben wird. Trotzdem betont jede Bundesregierung immer wieder, dass sie dafür sorgen will, dass es in diesem Feld vorangeht. Es braucht offensichtlich andere Strategien. Das gesamte Dublin-System, wonach die Menschen dort einen Asylantrag stellen müssen, wo sie erstmals europäischen Boden betreten und registriert werden, muss infrage gestellt werden.

Was kann Deutschland bewirken, wenn es eine Einigung auf europäischer Ebene nicht gibt?

Jochen Oltmer: Weil man sich auf EU-Ebene aus guten Gründen auf das Schengen-Abkommen mit offenen Binnengrenzen und einer gemeinsamen Außengrenze geeinigt hat, brauchen wir ein gemeinsames europäisches Flüchtlings- und Asylsystem. In vielen Politikbereichen hat die Europäisierung große Fortschritte gemacht. Man denke etwa an die Währungsunion, die ja gar nicht mehr hinterfragt wird. Analog brauchen wir eine Migrationsunion.

Sehen Sie denn eine Chance, dass die Staaten sich vom Dublin-System abwenden?

Jochen Oltmer: Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Viele Staaten, wie die Mittelmeer-Anrainer sind unzufrieden mit dem System. Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen, die es abschaffen wollen. Allerdings hat die Bundesrepublik als sehr mächtiger Akteur lange auf dem Dublin-System bestanden und als mitten in Europa liegender Staat davon profitiert.

Was halten Sie von dem Vorschlag, die Entscheidung über Asylverfahren an die Außengrenzen zu verlegen?

Jochen Oltmer: Ich halte ihn für unrealistisch. Zunächst ist die Einrichtung extraterritorialer Gebiete auf europäischem Boden rechtlich höchst umstritten. Zudem würden dort wahrscheinlich ähnlich wie in den Lagern auf den griechischen Inseln miserable humanitäre Bedingungen herrschen. Länder wie Italien oder Griechenland werden nicht zustimmen, dass die Asylverfahren auf ihrem Territorium durchgeführt werden. Zumindest nicht, solange es keinen festgelegten Verteilungsmodus für Asylberechtigte gibt und solange nicht geklärt ist, was mit denjenigen passiert, die kein Asyl bekommen. Auch ist nicht klar, vor welchen Gerichten abgelehnte Asylbewerber gegen die Entscheidung klagen können.

Was sollte denn ihrer Ansicht nach mit denen passieren, deren Asylantrag abgelehnt wird, die aber nicht abgeschoben werden können?

Jochen Oltmer: In der Tat kehren Jahr um Jahr Tausende abgelehnte Asylbewerber freiwillig in ihre Heimatländer zurück. Es gibt also Bewegung in diesem Feld. Es bedarf aber auch der Einsicht, dass es für einige Menschen, die in die Bundesrepublik gekommen sind, keine Perspektive gibt, sie wieder in die jeweiligen Herkunftsländer zurückzuschicken. Man sollte darüber diskutieren, sie mit einem Aufenthaltstitel auszustatten. Zudem müsste die Diskussion um den Spurwechsel vom Asyl- in das Einwanderungssystem wieder aufgenommen werden – auch mit Blick auf den Fach- und Arbeitskräftemangel in Deutschland.

Ist es denn aber nicht auch richtig, über eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen in irgendeiner Form zu sprechen, um die deutsche Gesellschaft nicht zu überfordern?

Jochen Oltmer: Natürlich ist es richtig, darüber zu diskutieren. Aber wir sollten nicht immer wieder diesen Gipfel- und Notfallmodus betonen. Damit wird suggeriert, die zunehmende Zahl der Schutzsuchenden stelle uns vor nicht zu stemmende Herausforderungen. Das trägt dazu bei, dass viele Menschen in der Bundesrepublik zu der Auffassung gelangen, das seien jetzt zu viele Flüchtlinge. Wir müssen anerkennen, dass Flucht in Deutschland ein Dauerthema bleiben wird.

Ich halte es für problematisch, dass jetzt immer öfter von illegalen Migranten anstatt von Schutzsuchenden gesprochen wird. Beim Asyl handelt es sich um ein international anerkanntes Recht. Es wäre nach Innen wie nach Außen wichtig, dass die Bedingungen, unter denen Menschen dieses Recht in Anspruch nehmen können, transparent sind. Das ist aber nicht der Fall. Die Anerkennungsraten der Asylsuchenden sind in den europäischen Ländern zum Beispiel sehr unterschiedlich. (epd/mig) Aktuell Interview Panorama

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