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900 Millionen Euro

EU macht Tunesien unmoralisches Angebot: Geld gegen Grenzschließung

53.000 Menschen kamen dieses Jahr an Italiens Küsten an, viele aus Tunesien. Das Land soll seine Grenzen dichtmachen für Geflüchtete, die nach Europa wollen. Im Gegenzug sollen EU-Gelder fließen. Tunesien will nicht Grenzpolizei der EU sein, braucht aber das Geld.

Von , und Sonntag, 11.06.2023, 21:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 11.06.2023, 20:36 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die EU-Kommission hat dem wirtschaftlich schwer angeschlagenen Tunesien Finanzhilfen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Angesichts steigender Zahlen von Geflüchteten über das Mittelmeer hofft Brüssel zugleich darauf, gemeinsam mit Tunesien effektiver gegen Schlepper und Überfahrten in Richtung Europa vorzugehen. Etwa für Such- und Rettungsaktionen und die Rückführungen von Menschen wolle man gut 100 Millionen Euro zur Verfügung stellen, kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntag in Tunis nach einem Gespräch mit Präsident Kais Saied an. Das entspricht der dreifachen Summe, mit der Brüssel Tunis dabei zuletzt im Durchschnitt jährlich unterstützte.

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An dem Treffen nahmen auch Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der niederländische Regierungschef Mark Rutte teil. Vor allem Meloni drängt seit Langem auf Abkommen mit Tunesien, um die dort ablegenden Geflüchteten-Bote auf deren Weg nach Süditalien und damit in die Europäischen Union schon früh zu stoppen. Die ultrarechte Politikerin sprach von einem „wichtigen ersten Schritt“. Saied nahm nicht an dem Statement teil.

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Ob der Deal zustandekommt und mit Tunesien bei den Detailverhandlungen Einigungen erzielt werden, dürfte von einem Entgegenkommen Saieds abhängen. Bereits ein Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 1,9 Milliarden Dollar hängt in der Luft, weil Saied keine verbindliche Zusage zu den dafür verlangten Reformen machen will.

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Hilfsorganisationen: Tunesien nicht sicher

In Tunesien mit seinen 12 Millionen Einwohnern leben nach aktuellen Schätzungen etwa 21.000 Geflüchtete aus Ländern südlich der Sahara. Viele spüren großen Druck, das Land zu verlassen. Saied hatte im Februar ein härteres Vorgehen gegen sie angekündigt und ihnen vorgeworfen, Gewalt und Kriminalität ins Land zu bringen. Seitdem nahmen Anfeindungen und rassistische Übergriffe gegen die Geflüchteten zu.

Von der Leyen sagte, die Achtung der Menschenrechte sei wichtig für eine „ganzheitliche“ Migrationspolitik. Hilfsorganisationen und Beobachter kritisieren die Bedingungen und Zustände, denen Migranten in Tunesien ausgesetzt sind. Sie unterstreichen, dass Tunesien unter dem zunehmend autoritär regierenden Saied kein sicherer Ort sei, in den Geflüchtete zurückgeschickt oder festgehalten werden dürfen.

Tunesien: Wollen keine EU-Grenzpolizei sein

Von einer Vereinbarung mit Tunis erhofft sich allen voran Meloni, ihrem lang erklärten Ziel näherzukommen, den Mittelmeerüberfahrten ein Ende zu bereiten oder diese wenigstens zu verringern. Allein bis Freitag zählte das Innenministerium in Rom mehr als 53.000 Bootsflüchtlinge, die seit Jahresbeginn an den italienischen Küsten ankamen – im Vergleichszeitraum 2022, also noch unter der Regierung von Mario Draghi, waren es knapp 22.700 gewesen. Um die Unterstützung von Ländern wie Tunesien zu bekommen, schlug Meloni immer wieder vor, Tunis – ähnlich wie das die EU 2016 mit der Türkei in einem Deal vereinbart hatte – dafür zu bezahlen, die Boote von Geflüchteten konsequent am Ablegen Richtung Italien zu hindern.

Saied schloss eine Rolle seines Landes als Grenzpolizei für Europa aus. „Wir können keine Rolle erfüllen, (…) in der wir ihre Länder bewachen“, sagte Saied am Samstag nach einem Besuch in der Küstenstadt Sfax, von wo aus Schleuser regelmäßig die teils seeuntauglichen und hoffnungslos überfüllten Boote losschicken. Die Betroffenen seien „leider Opfer eines globalen Systems, das sie nicht als Menschen sondern als reine Zahlen behandelt“, sagte Saied.

Tunesien kämpft gegen Rezension

Auch Tunesier wagen die lebensgefährliche Überfahrt. Viele sehen angesichts hoher Arbeitslosigkeit keine Perspektive mehr zu Hause. Tunesien steckt in seiner schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Die Bevölkerung kämpft mit steigenden Preisen und Knappheit bei Lebensmitteln. 2020 verzeichnete Tunesien die schwerste Rezession seiner Geschichte. Kritiker werfen Saied Untätigkeit vor: Der oft hölzern wirkende Staatschef hält sich meist im Hintergrund und machte etwa eine umstrittene neue Verfassung zur Priorität, die ihm mehr Macht einräumt.

Die EU-Kommission sei bereit, dem nordafrikanischen Land Finanzhilfen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro für die Stärkung der Wirtschaft bereitzustellen, sobald es dafür die „notwendige Einigung gebe“, sagte von der Leyen. Unmittelbar könnten zusätzlich bis zu 150 Millionen Euro an Budgethilfen bereitgestellt werden. Teil des geplanten Partnerschaft-Abkommens sind auch stärkere Beziehungen zwischen der EU und Tunesien etwa bei Wirtschaft und Handel.

Massive Asyl-Verschärfungen in der EU

Meloni hatte bereits Anfang der Woche den tunesischen Präsidenten besucht, um unter anderem über Migration zu sprechen. Sie forderte Tunesien und den IWF auch auf, pragmatischer an einer Lösung zu arbeiten, damit das Land den Milliardenkredit bekommen kann. Saied lehnt die geforderten Reformen aber ab. Mit seinen „Anordnungen“ verhalte sich der IWF wie ein „Arzt, der ein Rezept vor der Diagnose schreibt“.

In puncto Migration kam die EU erst am Donnerstag einen Schritt bei der lange geplanten Reform der europäischen Asylregeln weiter. Die Innenminister der Mitgliedstaaten vereinbarten umfassende Reformpläne – so sollen Migranten aus Ländern, die – wie Tunesien – als sicher gelten, künftig nach dem Grenzübertritt in Aufnahmeeinrichtungen kommen und dort unter haftähnlichen Bedingungen ausharren, während ihre Bleibeperspektive geprüft wird. Erhalten die Menschen kein Asyl, sollen sie umgehend zurückgeschickt werden. Die Pläne stehen in Deutschland bei Linken, Grünen und Teilen der SPD unter Beschuss. Möglich ist, dass das EU-Parlament noch Änderungen an der geplanten Reform durchsetzt. (dpa/mig) Aktuell Politik

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