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„Durch die Hölle gegangen“

Die Verzweiflung der Mittelmeer-Geflüchteten

Von Sfax in Tunesien wagen immer mehr Geflüchtete die Überfahrt auf die italienische Insel Lampedusa. Viele zahlen nicht nur finanziell einen hohen Preis. Sie hoffen auf ein besseres Leben und finden oft den Tod. Eine Spurensuche auf zwei Seiten des Mittelmeers.

Von und Sonntag, 02.07.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 01.07.2023, 17:17 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Es ist nicht nur die tunesische Sommerhitze, die die jungen Männer ermüdet. Sie haben eine beschwerliche Flucht aus ihren Heimatländern südlich der Sahara hinter sich. Jetzt sitzen sie in Sfax, jener tunesischen Küstenstadt, von der derzeit die meisten Flüchtlingsboote nach Südeuropa aufbrechen. Die Männer starren ins Leere, während sie im Schatten Schutz vor der sengenden Sonne suchen.

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Die meisten von ihnen wollen nach Lampedusa, die italienische Insel, die nur knapp 190 Kilometer entfernt liegt und die sie – irgendwie, irgendwann – auf einem Boot erreichen wollen. Für sie ist Lampedusa der Inbegriff für ein besseres Leben in Europa. Sie wollen dorthin, obwohl sie wissen, dass die Reise extrem gefährlich ist.

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Einer von ihnen ist Marvellous aus Nigeria. Er hoffe auf ein besseres Leben auf der anderen Seite des Mittelmeers. „Europa ist der Traum eines jeden Schwarzen“, sagt der 30-Jährige. Wann er diesen verwirklichen kann, weiß Marvellous noch nicht. Derzeit fehle ihm das Geld für die Überfahrt über das Mittelmeer. Deshalb bettelt er.

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„Sie behandeln uns wie Tiere“

Mehr als 500 Menschen kamen bei Bootsunglücken vor Tunesiens Küste allein in diesem Jahr ums Leben oder gelten als vermisst. Das teilte die Nichtregierungsorganisation Tunesisches Forum für ökonomische und soziale Rechte (FTDES) mit. Die Stadt weiß nicht mehr, wo sie die vielen Leichen der Ertrunkenen bestatten soll. Es fehle allein schon an Grundstücken, um Friedhöfe zu errichten.

Das alles schreckt Marvellous nicht ab. Die Situation in Tunesien sei „verdammt schlecht“, erzählt er verzweifelt. Immer wieder würden Migranten Opfer von Gewalt. Vor ein paar Monaten seien Tunesier in seine Unterkunft eingebrochen, hätten ihn zusammengeschlagen und sein Geld gestohlen. „Sie behandeln uns wie Tiere.“

Nach einer Rede des tunesischen Präsidenten Kais Saied im Februar haben Anfeindungen und rassistische Übergriffe gegen Ausländer aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara stark zugenommen. Saied warf damals den „Horden von illegalen Einwanderern“ vor, Gewalt und Kriminalität ins Land zu bringen. Danach stieg die Zahl der Migranten, die nach Italien übersetzen, sprunghaft an.

„Der Mann ist ein Rassist“

Die Kriminalität in Sfax habe relativ zum Zuzug der Geflüchteten zugenommen, fasst ein Sprecher des Gerichts der Stadt die Lage zusammen. Alarmierend sei die Entwicklung aber nicht.

In Sfax klagen dennoch viele Anwohner. Die „Afrikaner“ seien für den vielen Müll auf der Straße verantwortlich, schimpft ein Kunde auf einem Flohmarkt. Ein Händler für Altkleider widerspricht: „Der Mann ist ein Rassist. Die Afrikaner sind gute, fleißige Arbeiter.“ Was er nicht sagt: Geflüchtete verdienen für dieselbe Arbeit in der Regel deutlich weniger Geld als die Einheimischen.

An seinem Stand beschäftigt der Verkäufer für Second-Hand-Kleidung auch einen jungen Mann aus Gambia. Er spart, um dorthin zu kommen, woher seine Ware stammt: Europa. Die Lage in seiner Heimat sei „sehr schlecht“, sagt der 19-jährige Ousman mit leiser Stimme. Es gebe keine Arbeit. „Ich will einfach nur meiner Familie helfen.“

Überfahrt mit selbstgebauten Booten

Ein paar Straßen weiter verkaufen Frauen aus der Elfenbeinküste und Kamerun auf einem improvisierten Markt Eier, abgepackte Gewürze und Grieß. Einige haben Kleinkinder dabei. Mit Reportern reden möchte hier niemand – bloß keine Aufmerksamkeit erregen und riskieren, ins Visier der Polizei zu geraten. Eine Arbeitserlaubnis haben sie nicht.

Der Hafen der Stadt gleicht einer Sicherheitszone. Einsatzkräfte patrouillieren und bringen immer wieder Migranten und Flüchtlinge, die sie auf dem Meer aufgespürt haben, zurück an Land. Das lukrative Geschäft mit dem Menschenschmuggel brummt in Tunesien. Nach Angaben des Gerichtssprechers werden allein in Sfax jeden Monat rund 30 bis 40 Fälle registriert. Den Beteiligten drohen hohe Haftstrafen.

Viele Geflüchtete machen sich mittlerweile aber auch in selbst gebauten Booten, die meist kaum seetauglich sind, auf den Weg. Sie starten ihre Überfahrt dann von den verwaisten Stränden im Norden der Stadt. Die Küste von Sfax ist kaum erschlossen. Die zweitgrößte Stadt des Landes ist bei den Einheimischen vor allem für ihre vielen Fabriken und Umweltprobleme bekannt. Strandgänger verirren sich kaum hierher.

Rettung aus der Luft

Je nach Größe der Boote quetschen sich oft mehrere Dutzend Menschen an Bord, dann legen sie ab – Ziel Lampedusa. Bis zur Insel schaffen es aus eigener Kraft nur die allerwenigsten. Schon Tunesiens Küstenwache fängt viele Boote ab. Die meisten Menschen, die in internationale Gewässer gelangen, werden von Schiffen italienischer Behörden – Küstenwache, Carabinieri oder Finanzpolizei – aufgespürt und entweder an Bord oder im Schlepptau nach Lampedusa begleitet.

Für manche Geflüchtete kommt die Rettung von oben. Dort kreist seit Jahren der Franzose José Benavente mit seinem Kleinflugzeug „Colibri 2“ zwischen Lampedusa, Tunesien und Libyen. Zusammen mit Helfern seiner Organisation Pilotes Volontaires sucht er nach Flüchtlingsbooten und schickt Seenotrettungsschiffen deren Koordinaten. Während der Autopilot die zweimotorige Diamond DA42 steuert, scannen Benavente und andere Freiwillige an Bord mit Ferngläsern das Meer. Mehrere Stunden sind sie täglich für ihre Einsätze in der Luft.

Dank der Daten aus der „Colibri 2“ kann das deutsche Schiff „Mare*Go“ der gleichnamigen Hilfsorganisation aus Schwerin an diesem Mittwoch ein kleines Holzboot mit Geflüchteten orten. Dieses ist seit zwei Tagen unterwegs. Die freiwilligen Helfer geben den 39 Menschen an Bord Wasser, etwas zu essen und Rettungswesten und warten, bis die italienische Küstenwache kommt und die Migranten übernimmt.

„Fast jede Woche Boote, die im Meer untergehen“

Kurze Zeit später gehen die Menschen in Lampedusa an Land. Dort ist eine ganze Mole nur für derartige Rettungseinsätze reserviert. Mehr als 4.500 Geflüchtete kamen innerhalb von 72 Stunden in dieser Woche an, mehr als 30.000 wurden seit Jahresbeginn gezählt.

„Das sind viel mehr als in den Jahren zuvor“, erzählt Emma Conti. Die 23-Jährige ist für Mediterranean Hope auf Lampedusa; die Initiative der evangelischen Kirche in Italien kümmert sich um den Empfang der Migranten bei der Ankunft an der Mole – und damit in einem EU-Land. „Wir versuchen, die Grenze menschlich zu machen“, erzählt Conti. Die junge Frau aus Mailand und drei Mitarbeiter verteilen Wasser, Tee, an kalten Tagen dünne Thermofolien oder auch Spielzeug für die Kinder.

Beim Ankommen nach manchmal tagelanger Irrfahrt werden Geflüchtete oft von Gefühlen überwältigt. „Es gibt Momente der Freude und des Glücks, wenn sie es endlich geschafft haben“, erzählt Conti. Aber es komme auch zu dramatischen Szenen, wenn etwa Menschen erzählen, dass auf der Überfahrt Freunde oder Verwandte im Meer ertrunken seien. „All diese Menschen sind durch die Hölle gegangen“, sagt Conti. In der Öffentlichkeit sorgten große Schiffsunglücke wie etwa im Februar vor Kalabrien oder jüngst vor Griechenland für Aufsehen. „Aber wir hier in Lampedusa haben fast jede Woche Boote, die im Meer untergehen.“

1.724 Tote seit Jahresbeginn

Und wie diese aussehen, das lässt sich just an jener Mole beobachten, an der die Menschen von Küstenwache, Carabinieri oder Finanzpolizei an Land gebracht werden. Auf ihrem Weg zu den bereitstehenden Bussen blicken die Geflüchteten im Wasser neben sich auf mehr als drei Dutzend Boote, in denen Leute aus Nordafrika ankamen. Boote aus Holz oder billigem Metall, die bislang nicht weggebracht oder verschrottet wurden, zum Teil halb im Hafenbecken versunken, an manchen hängt noch ein kaputter Außenbordmotor. In den Booten liegen Flaschen, einzelne Schuhe, Pullover, faulendes Treibholz und viele Schläuche von Autoreifen – sie werden in Sfax als Schwimmwesten-Ersatz verteilt.

Kein Wunder, dass so regelmäßig Menschen im Mittelmeer sterben. Die Vereinten Nationen zählen seit Jahresbeginn offiziell 1.724 tote oder vermisste Personen auf der zentralen Mittelmeerroute, also zwischen Nordafrika und Süditalien. Die Dunkelziffer dürfte viel höher sein.

Angesichts der Entwicklungen wirkt es zynisch, dass auf der anderen Seite des Hafens in Lampedusa, noch in Sichtweite der Migranten-Mole, die „Aurora“ angetaut ist. Italien hat das Schiff des Berliner Seenotrettungsvereins Sea Watch Mitte Juni für 20 Tage festgesetzt, weil es mit 39 geretteten Menschen nach Lampedusa fuhr – und nicht, wie von Rom angeordnet, in das weiter entfernte Trapani auf Sizilien.

61.000 Menschen angekommen

Alberto Mallardo von Sea Watch schüttelt den Kopf, wenn er über das Dekret der rechten Regierung in Rom spricht, das so eine Strafe vorsieht. Statt bei den Rettungen von Menschen zu helfen, schaukelt das 14 Meter lange Schiff nun in Lampedusa im Hafen, gleich neben Ausflugsbooten und kleineren Jachten. „Wir hoffen, so schnell wie möglich wieder auslaufen zu können“, sagt Mallardo. „Vor allem fordern wir aber eine europäische Such- und Rettungsmission.“

Italien fühlt sich allein gelassen. Mehr als 61.000 angekommene Bootsgeflüchtete zählt das Innenministerium in Rom Stand 28. Juni – im vorigen Jahr waren es zu diesem Zeitpunkt gut 27.000 Menschen.

Nach ihrer Ankunft im Hafen von Lampedusa steigen die Geretteten in bereits wartende Kleinbusse, die sie in wenigen Fahrminuten in den sogenannten Hotspot, ein Erstaufnahmelager im Landesinneren der Insel, bringen. Dieses ist offiziell für rund 400 Menschen ausgelegt – am Freitag werden dort mehr als 3.250 Geflüchtete gezählt. So voll war das Camp noch nie, twittert der Journalist Sergio Scandura, der sich seit Jahren über Flüchtlinge im Mittelmeer berichtet.

Wunsch nach einem besseren Leben

Ein hoher Zaun trennt die Migranten und die Helfer drinnen von der Öffentlichkeit, den Medien und den Touristen draußen auf der Insel. Man kann um das in einem kleinen Tal gelegene Areal herumlaufen, dabei begegnet man Soldatinnen und Soldaten, die den Hotspot bewachen und Besucher schon von weitem mit Ferngläsern inspizieren. Von außen sind im Lager unter anderem die Schlafcontainer zu erkennen, außerdem im Freien aufgebaute Duschkabinen. Das Rote Kreuz, das erst zuletzt die Organisation im Hotspot übernommen hatte, bemüht sich darum, den Menschen Essen und Trinken zu geben. Viele Polizisten sind vor Ort.

Mit den Fähren und Sonderschiffen der Polizei oder des Militärs versuchen die Behörden, die zunächst in den Hotspot gebrachten Migranten schnell wieder von der Insel wegzubringen. Am Donnerstag legt eine Fähre mit knapp 250 Menschen in Richtung Sizilien ab, ein Boot der Finanzwache fährt mit 150 Passagieren in dieselbe Richtung.

Die Schiffe manövrieren vorbei an Ausflugsbooten, an der Küste Lampedusas sind die malerischen Buchten mit ihrem türkisblauen Wasser zu sehen. Jenes Wasser aus demselben Mittelmeer, das für so viele Menschen auf ihrer Flucht schon zum nassen Grab wurde. Jenes Meer, dem sich auch Menschen wie Marvellous aus Nigeria oder Ousman aus Gambia ausliefern wollen in ihrem Wunsch nach einem besseren Leben. (dpa/mig) Leitartikel Panorama

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