„Nicht mehr zeitgemäß“
Berliner Senatorin Kızıltepe stellt Verteilmechanismus für Flüchtlinge infrage
Geflüchtete werden in Deutschland nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt. Berlins zuständige Senatorin sieht hier Änderungsbedarf. Unterdessen fordert die CDU Tempo beim Aufbau von Leichtbauhallen.
Montag, 31.07.2023, 19:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 31.07.2023, 18:50 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Berlins Integrationssenatorin Cansel Kızıltepe fordert angesichts gestiegener Flüchtlingszahlen Änderungen beim Verteilungsmechanismus in Deutschland. „Wir brauchen eine Reform des Königsteiner Schlüssels, wir brauchen eine Sonderregel für Stadtstaaten wie Berlin“, sagte die SPD-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur.
Zur Begründung verwies sie darauf, dass dicht besiedelte Stadtstaaten wie Berlin naturgemäß nur begrenzt Flächen für neue Flüchtlingsunterkünfte zur Verfügung hätten. Daher sei die aktuelle Regelung zur Verteilung der Menschen auf die Länder unter anderem auf Basis von deren Einwohnerzahl nicht mehr zeitgemäß. Sie sei dazu bereits im Gespräch mit Hamburg und Bremen, so Kızıltepe.
Keine Mehrheit für neuen Schlüssel
Bremen reagierte überrascht über den Vorstoß. Das Thema sei vor Monaten aufgekommen, habe sich inzwischen aber im Sande verlaufen, sagte ein Sprecher von Integrationssenatorin Claudia Schilling (SPD). Man sei damals zu dem Schluss gekommen, dass die Unterbringung von Flüchtlingen alle Städte fordere, nicht speziell die Stadtstaaten. Momentan gebe es keine Abstimmungen mit Berlin dazu.
Ein Sprecher des Hamburger Senats verwies darauf, dass es keine Mehrheit für eine Neuberechnung des Königsteiner Schlüssels gebe. Der Senat sei aber der Auffassung, dass die tatsächliche Aufnahme bei der Verteilung neu ankommender Geflüchteter künftig berücksichtigt werden sollte, denn: „Viele Geflüchtete werden zwar nach dem Königsteiner Schlüssel zur Aufnahme einem bestimmten Bundesland zugewiesen, wechseln aber dennoch den Wohnort.“ Bund und Länder seien daher im Gespräch darüber, das Ausländerzentralregister zum zentralen Instrument für das Management der Migration zu entwickeln.
Herrmann für Begrenzung von Fluchtmigration
Nach Meinung von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann lenkt Kızıltepe von den eigentlichen Problemen ab. „Wir müssen in Deutschland nicht die Verteilung ändern, sondern den Zuzug von Flüchtlingen begrenzen“, sagte der CSU-Politiker der dpa. „Es bringt gar nichts, am Verteilungsmaßstab herumzubasteln, wenn die Bundesregierung alle Maßnahmen zu einer Begrenzung der Flüchtlingsmigration torpediert.“ Der Berliner AfD-Abgeordnete Gunnar Lindemann pflichtete dem bei und forderte: „Was wir brauchen, sind strikte Grenzkontrollen, schnelle Asylverfahren und konsequente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber.“
In Deutschland legt der Königsteiner Schlüssel fest, wie viele Asylbewerber ein Bundesland aufnehmen muss. Berechnet wird dies auf Basis der Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl. Auf Berlin entfallen laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 5,2 Prozent.
16.000 Geflüchtete im laufenden Jahr aufgenommen
Hinzu kämen nach wie vor viele Ukrainer, die vor dem russischen Angriffskrieg flüchteten, so Kızıltepe. Viele kämen privat unter. „Und natürlich zieht es diese Menschen oft nach Berlin, weil wir hier eine hohe Willkommenskultur haben und auch bei unseren Integrationsleistungen bundesweit Vorreiter sind“, sagte Kızıltepe.
Laut Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) nahm Berlin im ersten Halbjahr etwa 16.000 Geflüchtete auf. Es handelt sich um 7.473 Asylbewerber – ein Plus von mehr als 50 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum – sowie um 8.502 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die einen anderen Aufenthaltsstatus haben. Deren Zahl ging im Vergleich zu 2022 zurück, bewegt sich angesichts des anhaltenden Krieges laut LAF aber immer noch auf hohem Niveau.
Bis zu 12.000 weitere Geflüchtete bis Jahresende
Kızıltepe geht auf Basis von Prognosen davon aus, dass bis Jahresende weitere 10.000 bis 12.000 Geflüchtete kommen und zu deren Unterbringung auch zeltähnliche Hallen als Provisorien herangezogen werden könnten. Ziel sei grundsätzlich, Zuwanderer mit Wohnungen zu versorgen, sagte die Senatorin und verwies auf den Bau modularer Unterkünfte (MUF). „Aber kurzfristig werden wir nicht alle dieser Menschen in Wohnungen unterbringen können. Bevor sie auf der Straße landen, würden wir sie in Leichtbauhallen unterbringen.“
CDU-Fraktionschef Dirk Stettner forderte schnelles Handeln. „Wir werden leider Großunterkünfte brauchen. Das ist einfache Mathematik“, sagte er der dpa. „Wir wissen, dass die aktuellen Flüchtlingsunterkünfte zu 98,5 Prozent ausgelastet sind. Und es sollen noch geschätzt 10.000 Menschen bis Jahresende dazukommen.“
Große Flüchtlingsunterkünfte menschenrechtswidrig
Auch er sei für eine dezentrale Unterbringung – aber das reiche nicht: „Wir werden vielleicht bis zum Jahresende noch 1.500 Plätze dazu bekommen. Und selbst wenn wir vom besten Fall ausgehen, fehlen dann immer noch 8.500 Plätze“, so Stettner. „Das heißt, wir brauchen Großunterkünfte, die schleunigst hergerichtet werden.“ Dort müsse es auch Schulangebote und medizinische Versorgung geben. „Wir haben Flächen dafür, wir könnten auch Tempelhof erweitern“, sagte Stettner und forderte, beim Thema Großunterkünfte „ideologischen Ballast“ abzuwerfen. „In der Krise können wir darauf leider keine Rücksicht nehmen.“
Einer kürzlich erschienenen Untersuchung zufolge bieten Großunterkünfte kaum Vorteile. Gemeinschaftsunterkünfte erschwerten die Integration in vielerlei Hinsicht, böten im Gegenzug jedoch kaum Vorteile. Nach Abwägung aller Umstände kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass große Flüchtlingsunterkünfte gegen Menschenrechte verstoßen. (dpa/mig) Aktuell Politik
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