Flüchtlingspolitik
Lampedusa ruft Notstand aus, Deutschland setzt Aufnahme aus
Die Zahl neu angekommener Geflüchteter in Lampedusa ist auf Rekordhoch. Das Erstaufnahmelager ist überfüllt. Bei der Ankunft spielen sich chaotische Szenen ab - ein fünf Monate alter Säugling ertrinkt. Deutschland stoppt indes die freiwillige Aufnahme von Geflüchteten aus Italien.
Von Robert Messer, Christoph Sator und Anne-Béatrice Clasmann Donnerstag, 14.09.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 14.09.2023, 14:09 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa kommen wieder jeden Tag mehrere Tausend Bootsgeflüchtete an. Innerhalb von 24 Stunden registrierten die Behörden am Dienstag mehr als 5.000 Menschen, wie am Mittwoch aus Zahlen des Innenministeriums hervorging. Die Nachrichtenagentur Ansa berichtete von mehr als 5.100 – so viele wie noch nie an einem einzigen Tag. In der Kommune Lampedusa, zu der auch die Nachbarinsel Linosa gehört, gibt es knapp 6.500 Einwohner. Mit rund 20 Quadratkilometern ist Lampedusa nur in etwa so groß wie die deutschen Nordseeinseln Amrum oder Langeoog. Italiens Vize-Regierungschef von der rechtspopulisitschen Lega-Partei, Matteo Salvini, hat Situation gar als „Akt des Krieges“ bezeichnet. In der Nacht auf Mittwoch kam es zu einem tragischen Unglück: Beim Versuch, ein erst fünf Monate altes Kind an Land zu bringen, fiel der Säugling ins Wasser und ertrank.
Die Insel zwischen Sizilien und Nordafrika gehört seit Jahren zu den Brennpunkten der Fluchtbewegung nach Europa. Die Situation am Dienstag war unübersichtlich, weshalb zunächst von 2.500 Ankömmlingen die Rede war. Nach einer Zeit, in der weniger Menschen auf der Insel landeten, muss Lampedusa wieder mit Tausenden Neuankömmlingen zurechtkommen. Nach Zahlen des Innenministeriums in Rom wurden seit Beginn des Jahres bereits mehr als 123.800 Menschen registriert, die auf Booten Italien erreichten – im Vorjahr waren es von Januar bis Mitte September 65.500. Sollte der Trend anhalten, könnte bis Ende des Jahres gar die Rekordzahl von 2016 übertroffen werden. Damals kamen 181.000 Menschen.
Diskussionen zwischen Deutschland und Italien
Der Umgang mit Geflüchteten sorgt auch für neue Diskussionen zwischen der Bundesregierung und der Rechtsregierung in Italien. Berlin setzte ein Programm zur freiwilligen Aufnahme von Geflüchteten aus Italien aus, wie das Bundesinnenministerium bestätigte. Zuerst hatte die „Welt“ berichtet. Ursprünglich hatte Deutschland zugesagt, 3.500 Asylbewerber aus besonders belasteten Staaten an Europas Außengrenzen im Süden zu übernehmen. Bislang wurden über den sogenannten freiwilligen europäischen Solidaritätsmechanismus 1.700 Schutzsuchende überstellt, damit sie in Deutschland ihr Asylverfahren durchlaufen.
Weitere Aufnahmen seien nun nicht mehr geplant, auch weil es bei der Rückübernahme von Geflüchteten nach den sogenannten Dublin-Regeln hakt, so das Ministerium. Diese Regeln sehen vor, dass Asylbewerber ihren Antrag – bis auf wenige Ausnahmefälle – im ersten EU-Land stellen müssen, in dem sie registriert wurden. Wer es dennoch in einem anderen Staat versucht, kann dorthin zurückgeschickt werden.
Lösung nicht auf nationaler Ebene
„Angesichts des bestehenden hohen Migrationsdrucks nach Deutschland verstärkt die anhaltende Aussetzung von Dublin-Überstellungen durch einige Mitgliedstaaten, auch durch Italien, die großen Herausforderungen, vor denen Deutschland zurzeit hinsichtlich seiner Aufnahme- und Unterbringungskapazitäten steht“, erklärte ein Ministeriumssprecher. Bis Ende August sind demnach erst zehn Dublin-Überstellungen nach Italien erfolgt. Rom sei informiert worden, dass der Auswahlprozess verschoben werde.
„Einwanderung ist ein europäisches Problem“, schrieb Italiens Außenminister Antonio Tajani auf der Online-Plattform X (vormals Twitter). Es müsse unter Beteiligung aller EU-Länder gelöst werden. Auch EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola betonte, die Lösungen lägen nicht auf nationaler, sondern nur auf europäischer Ebene.
So sieht es auch Clara Bünger (Linke). Die Aufnahme und Versorgung von Asylsuchenden ist eine gesamteuropäische Verantwortung, erklärte die Linkspolitikerin am Donnerstag. Doch die Bundesregierung tue das genaue Gegenteil. „Das ist fatal und zeigt, dass das Gerede von europäischer Solidarität nichts als eine hohle Phrase ist“ erklärt Bünger. Es sei kein Zufall, dass Salvini die Ankünfte der Geflüchteten als „Akt des Krieges“ bezeichnet hat. Die Bilder von Chaos und Überlastung spielten rechten Kräften in die Hände.
Situation nicht mehr tragbar
Lampedusa liegt 190 Kilometer von der tunesischen Küstenstadt Sfax entfernt, wo viele Flüchtlingsboote nach Europa starten. Immer wieder kommt es bei den hochgefährlichen Überfahrten zu Unglücken mit Toten. Bürgermeister Filippo Mannino bezeichnete die Situation als nicht mehr tragbar. „Vor diesem Hintergrund ist es unmöglich, eine angemessene Hilfe für die Migranten zu gewährleisten, trotz immenser logistischer Anstrengungen.“
Das Erstaufnahmelager mit Platz für rund 400 Menschen ist erneut überfüllt. Knapp 6.800 Geflüchtete befinden sich derzeit auf der Insel – die meisten im Lager. Mannino forderte, Boote mit Geflüchteten abzufangen und nach Sizilien oder aufs Festland zu bringen. Die Familie des ertrunkenen Kindes hatte sich aus dem westafrikanischen Land Guinea auf den Weg nach Europa gemacht. Die Mutter ist minderjährig. (dpa/mig) Leitartikel Politik
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