Karawane-Sprecher Ardehali
„Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört!“
Die „Karawane“, in der sich deutschlandweit vernetzt Geflüchtete und Migranten organisieren, ist in diesem Jahr 25 Jahre alt geworden. Im Gespräch erklärt Araz Ardehali, was die Karawane antreibt, wofür sie kämpft und was Betroffene empfinden, wenn hierzulande über Willkommenskultur gesprochen wird.
Von Leon Wystrychowski Mittwoch, 20.09.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 20.09.2023, 12:15 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Die „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten“ feiert in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen. Wie ging es damals los? Was waren Anlässe und Gründe für die Aktiven der ersten Stunde?
Araz Ardehali: In den 1990er Jahren waren viele Flüchtlinge hier in Deutschland von Abschiebungen bedroht oder betroffen. Nach der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 1993 (sog. Asylkompromiss, Anm. d. Red.) forcierte die Bundesregierung die Deportation von Menschen nach Sri Lanka und in die Türkei. Diese setzten sich jedoch zur Wehr: ab 1996 die Tamilen in Bremen und ab 1998 die Kurden aus der Türkei in Nordrhein-Westfalen. Gleichzeitig solidarisierten sich die Flüchtlinge aus Nigeria hier in Deutschland mit der Opposition in ihrem Herkunftsland: In Thüringen war „The Voice Africa Forum“ von Flüchtlingen aus Nigeria sowie anderen Ländern Afrikas gegründet worden. Sie setzen sich gegen die deutschen Isolationslager für Flüchtlinge und gegen die Abschiebungen ein.
Als dann im Vorfeld der Bundestagswahlen 1998 die großen Parteien ihr rassistisches Arsenal auffuhren, um auf Stimmenfang zu gehen, kamen die genannten Flüchtlingsgruppen zusammen, um gemeinsam ihre Positionen zu formulieren und sich zu verteidigen. Sie sagten: „Wir haben keine Wahl, aber eine Stimme!“ Sie planten und führten die erste „Karawane“-Tour im Sommer 1998 durch. Sie besuchten entlegene Isolationslager wie Tambach-Dietharz in Thüringen oder gingen an die für Flüchtlinge tödliche deutsch-polnische Grenze. Diese Tour gab allen beteiligten Personen viel Kraft und Mut. Gleichzeitig war es ein starker Ausdruck praktischer internationaler Solidarität, dass sich im Anschluss viele lokale Gruppen als Teil eines Netzwerks formierten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Entrechtung und die Erniedrigung von den politisch kundigen Flüchtlingen nicht länger toleriert werden konnten. Daher haben sie angefangen, sich zusammenzuschließen und bildeten gemeinsam die Selbstorganisation der „Karawane“.
Die Karawane verortet sich in einer antikolonialen Tradition. Wie hängen Kolonialismus, Neokolonialismus, Migration und Flucht zusammen?
„Was meint ihr, was die Flüchtlinge denken, die hier jahrelang geschuftet, ihre Arbeitskraft billig verkauft, im Isolationslager ausgeharrt haben, wenn sie Politiker und Medien über Menschenrechte reden hören?“
Die Mehrheit der Menschen verlässt nicht freiwillig ihre Familien, ihre Freunde oder ihre bekannte Umgebung. Der größte Teil der Menschheit in Abya Yala (vorkolonialer Name Lateinamerikas, Anm. d. Red.), Afrika und Asien ist seit der Geburt mit Not und Elend, mit Kriegen und Verfolgung konfrontiert. Diese sind nicht nur direkte Folgen des Kolonialismus, sondern auch ein Ergebnis ihrer Fortsetzung mit anderen Mitteln. Die internationalen Institutionen wie die Weltbank, der Internationaler Währungsfonds (IWF) oder die Welthandelsorganisation (WTO) sind kontrolliert durch die ehemaligen Kolonialmächte und halten die ehemals kolonisierten Gesellschaften in Abhängigkeit. Diese dominierten Gesellschaften sind nicht nur Rohstofflieferanten, sondern auch Märkte für Produkte des alltäglichen Konsums, Abnehmer für Waffen und Gehilfen bei der Durchsetzung eines globalen Ausbeutungsregimes. Wenn sie nicht mehr mitspielen wollen, werden die Regierungen entfernt und abgesetzt, werden Kriege geschürt und geführt.
Die NATO versammelt seit 1949 die meisten ehemaligen Kolonialmächte in einer Allianz. Seit ihrer Gründung führten sie Massaker in diversen Ländern durch, in Indochina, Algerien, Guatemala, Kenia usw. Sie beendeten demokratische Versuche in Chile, Guatemala, Iran, Kongo etc. durch Militärputsche. Es folgten Regierungen, die Methoden der Nazis und der CIA in ihren Kerkern praktizierten. Die offensichtlichsten Gründe für Flucht sind die völkerrechtswidrigen Kriege gegen Jugoslawien, Irak, Afghanistan und Libyen. Für die Völker der betroffenen Länder steht der Name NATO für „nordatlantische Terrororganisation“. Sie steht klar in der Tradition des Kolonialismus durch die europäischen Länder und ist nur ein Werkzeug der Unterdrückung.
Wer mehr über die aktuellen Verhältnisse und ihre Ursprünge im Kolonialismus verstehen will, kann das Buch von Eduardo Galeano „Die offenen Adern Lateinamerikas“ oder die Bücher von André Gunder Frank (Mitbegründer der Dependenztheorie, Anm. d. Red.) und Samir Amin (ägyptisch-französischer Ökonom, Anm. d. Red.) lesen. Ebenso empfehlenswert sind die Bücher und Texte von Jean Ziegler (ehem. UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Anm. d. Red.) über die Folgen der Beherrschung dieser dominierten Länder. Wer tatsächlich eine menschlichere Welt will, muss also die Verhältnisse verstehen und es gibt tausende gute Bücher oder Dokumentationen, die dabei hilfreich sein können.
„Was glaubt ihr, geht in uns vor, wenn wir an Oury Jalloh, Dominique Kouamadio, Mohammed Sillah, Amed Ahmad, Mareama Sarr, Christy Schwundeck, Mouhamed Dramé und tausend andere Opfer denken? Was denken wir, wenn wir an die über 50.000 Toten im Mittelmeer denken?“
Die Menschen in der „Karawane“ sind überzeugt, dass sowohl die rassistischen Gesetze, wie die Residenzpflicht, als auch die rassistischen Auswüchse, wie Polizeibrutalität, ohne Kolonialismus nicht so ausgeprägt wären. Wir sind überzeugt, dass eine menschlichere Welt durch den Neuaufbau der Verhältnisse organisiert werden muss.
Das Verständnis der „Karawane“ diesbezüglich wird in den Parolen zusammengefasst: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört!“ und: „Vereint gegen koloniales Unrecht!“
Der Migrationsdiskurs in Deutschland kreist heutzutage um eine linksliberale „Willkommenskultur“ auf der einen und – meist offen konservativ bis rechts, manchmal aber auch mit einem linken Selbstverständnis begründete – „Migrationskritik“ auf der anderen Seite. Wie steht die „Karawane“ zu derlei „Debatten“?
Die Debatten verfolgen wir zwar, aber sie sind nicht unser Fokus. Wir konzentrieren uns ausschließlich auf die Flüchtlinge und Migranten, die ein Anliegen, die eine Sorge haben, egal ob es um ihr Leben hier oder um ihre zurückgebliebenen Verwandten im Ursprungsland geht. Wir wollen eine Gesellschaft von bewussten Menschen, die eine solidarische Welt aufbauen.
Die öffentlich geführten Diskussionen von den Parteien hierzulande hat immer nur eine Verschlimmerung der Situation hervorgebracht, egal in welchem schönen Kleid sie es verpackt haben. Zudem erwarten wir keine menschliche Praxis von denen, die die Politik nur nach dem Erfolg ihrer Konzerne und des Profits ausrichten, die nicht an universelle, das heißt allgemeingültige Menschenrechte, Frauenrechte oder Minderheitenrechte glauben. All diese Grundrechte werden missbraucht, wenn es den eigenen Interessen hilft, aber vergessen, wenn die selbst begangenen Verbrechen diskutiert werden. Was meint ihr, was die Flüchtlinge denken, die hier jahrelang geschuftet, ihre Arbeitskraft billig verkauft, im Isolationslager ausgeharrt haben, wenn sie Politiker und Medien über Menschenrechte reden hören? Was glaubt ihr, geht in uns vor, wenn wir an Oury Jalloh, Dominique Kouamadio, Mohammed Sillah, Amed Ahmad, Mareama Sarr, Christy Schwundeck, Mouhamed Dramé und tausend andere Opfer denken? Was denken wir, wenn wir an die über 50.000 Toten im Mittelmeer denken? Und nicht zu vergessen an die mittlerweile sicher über eine Milliarde Opfer der von NATO-Staaten geführten Kriege? Ich habe die zig Millionen Opfer Koreas, Vietnams, Iraks, Jemens, Afghanistans, Jugoslawiens und Libyens vor Augen und solange diese nicht ruhen, kann ich nicht an die Menschenrechte glauben, die von Washington, London, Paris, Berlin oder Brüssel ausgerufen werden.
„Nach der ‚Willkommenskultur‘ folgte ein Schub nach rechts, es folgte eine noch stärkere gesetzliche Spaltung der Flüchtlinge in ‚gute‘ und ’schlechte‘, in ‚echte‘ und ‚falsche‘ usw., es folgten noch mehr Abschiebungen, die Anzahl der rassistischen Morde durch Polizei nahm zu. … Und jetzt: Die Diskussionen über legale und sichere Fluchtrouten führt nun zur Auslagerung der Asylverfahren an den Außengrenzen Europas.“
Was wir immer nur in Diskussionen sagen, ist: Bildet euch! Lernt, wie Unterdrückung und Ausbeutung funktionieren! Lasst euch nicht täuschen von Kriegsparteien wie den Grünen oder anderen. Wenn wir die Diskussionen hier über die „Willkommenskultur“ hören, können wir nur konstatieren: Nach der „Willkommenskultur“ folgte ein Schub nach rechts, es folgte eine noch stärkere gesetzliche Spaltung der Flüchtlinge in „gute“ und „schlechte“, in „echte“ und „falsche“ usw., es folgten noch mehr Abschiebungen, die Anzahl der rassistischen Morde durch Polizei nahm zu. Die Attacken auf Muslime in Deutschland erreichten ihren vorläufigen Höhepunkt. Von was für einer „Willkommenskultur“ reden wir dann eigentlich? Und jetzt: Die Diskussionen über legale und sichere Fluchtrouten führt nun zur Auslagerung der Asylverfahren an den Außengrenzen Europas.
Weil wir den Erben der Kolonisatoren nicht trauen können, richten wir uns an die Betroffenen selbst und alle anderen, die ihre Vernunft einschalten und neugierig sind und nicht nur koloniale Lehrer sein wollen. Wir brauchen niemanden, der uns hilft. Aber wer mit uns kämpfen will, ist Willkommen!
Apropos kämpfen: Ihr blickt auf ein Vierteljahrhundert der Kämpfe zurück. Was waren eure wichtigsten Erfolge, was waren für dich persönlich die eindrucksvollsten Erfahrungen, was waren die größten Niederlagen oder auch Fehler?
Die schönsten Erfahrungen waren die vielen neuen Menschen, die wir kennengelernt haben und kennenlernen durften. Durch sie haben wir diese Welt besser verstanden. Wir haben gelernt, dass das Schulwissen über Geschichte uns nicht befähigt, diese Welt zu verstehen, sondern dazu dient, dass wir Arbeitssklaven werden für den Reichtum anderer.
Wir haben gemeinsam das Leid besser ertragen, uns gegenseitig trösten können. Wir haben auch Freude gemeinsam geteilt.
Die größten Erfolge waren die verhinderten Abschiebungen, die Schließung von zahlreichen Lagern, die öffentliche Wahrnehmung über die kolonialen Ursprünge der Residenzpflicht, die Befähigung von vielen Schwestern und Brüdern, für sich selbst einzutreten.
„Wir waren teilweise auch seelisch angeschlagen von der Barbarei und der Boshaftigkeit, die wir in den Lagern oder auch in der Flüchtlingspolitik gesehen haben, von der kalten Dreistigkeit und den Lügen, die uns erzählt wurden nach den Morden an Oury Jalloh, Dominique Kouamadio oder Amed Ahmad.“
Der größte Fehler oder die größte Schwäche war es, dass wir nicht in der Lage waren, alle geschaffenen Freiräume zu halten bzw. auszubauen. Wir wurden überrollt von den Angriffen auf unsere Brüder und Schwester und haben es versäumt, uns auf die Bildung unserer Kinder zu konzentrieren. Wir waren teilweise auch seelisch angeschlagen von der Barbarei und der Boshaftigkeit, die wir in den Lagern oder auch in der Flüchtlingspolitik gesehen haben, von der kalten Dreistigkeit und den Lügen, die uns erzählt wurden nach den Morden an Oury Jalloh, Dominique Kouamadio oder Amed Ahmad. Diese haben Spuren und Narben in uns hinterlassen und teilweise hat diese Wut auch Hass in uns erzeugt. Wir haben vielleicht manchmal vergessen, die Kraft der Solidarität und der zwischenmenschlichen Liebe noch stärker in unseren Gemeinschaften erstrahlen zu lassen.
Welche Lehren habt ihr aus euren langjährigen Aktivitäten gezogen, die ihr den künftigen Generationen, die in Deutschland gegen Rassismus und Neokolonialismus kämpfen werden, mitgeben wollt?
Seid solidarisch mit Menschen, die gerade Unrecht erfahren. Lernt miteinander und schaut, wie sich das Unrecht konkret ausdrückt. Schafft eure eigenen Räume und Strukturen für die Unterdrückten, konstruktive Räume der Selbstbildung und Ermächtigung. Und zwar unabhängig von Staat, Stiftungen, NGOs usw. Interview Leitartikel Panorama
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