Gewöhnung an das Leid
10 Jahre nach dem ersten großen Bootsunglück von Lampedusa
Vor zehn Jahren kamen mehr als 360 Geflüchtete bei einem Bootsunglück vor Lampedusa ums Leben. Die Bestürzung war groß, die Versprechen, dass sich so etwas nicht wiederholt, ebenso. Seitdem ist viel passiert - doch geändert hat sich wenig.
Von Almut Siefert Sonntag, 01.10.2023, 18:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 01.10.2023, 14:36 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Seine erste Reise als Papst Franziskus führt Jorge Mario Bergoglio am 8. Juli 2013 nach Lampedusa. In der ersten Hälfte des damaligen Jahres waren nach offiziellen Angaben 3.648 Menschen über das Mittelmeer auf die kleine italienische Insel gelangt. Ein enormer Anstieg im Vergleich zum Vorjahr. Immer wieder wird auch über Unglücke berichtet, bei denen Menschen beim Versuch der Mittelmeer-Überquerung ums Leben kommen. „Wir haben uns an das Leiden des anderen gewöhnt“, sagt Papst Franziskus bei seinem Besuch. „Es betrifft uns nicht, es interessiert uns nicht, es geht uns nichts an! Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns die Fähigkeit zu weinen genommen!“
Nur knapp drei Monate später, am 3. Oktober 2013, wird das Leid für alle sichtbar. Bei einem Bootsunglück vor der Insel sterben mehr als 360 Menschen. Ihr Boot hatte Feuer gefangen und war gekentert. Die leblosen Körper trieben im Wasser direkt vor der Küste Europas, wie sich die damalige Bürgermeisterin Giuseppina Nicolini im Gespräch mit dem „Evangelischen Pressedienst“ erinnert. Bilder von den aufgereihten Särgen wurden in die ganze Welt verbreitet. Niemand konnte mehr wegschauen.
Lampedusa, die kleine Insel südlich von Sizilien, wird zum Sinnbild für die Unfähigkeit Europas, eine gemeinsame Lösung im Umgang mit geflüchteten Menschen zu finden. Sie ist etwa 130 Kilometer entfernt von der tunesischen Küste und gilt daher für viele Geflüchtete auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben als „das Tor nach Europa“.
Triton: Überwachung, nicht Rettung
Als erste Reaktion initiiert die italienische Regierung die Operation „Mare Nostrum“: Schiffe von Marine und Küstenwache werden eingesetzt, um zwischen Italien und Nordafrika Schiffbrüchige zu retten. Sie wird 2014 von der europäischen Mission „Triton“ abgelöst – im Mandat ist die Rettung von Menschen jedoch nicht vorgesehen. Es geht nun hauptsächlich um die Überwachung der Grenzen und Verfolgung von Schleppern.
Im April 2015 sterben bei zwei weiteren Unglücken mehr als 1.000 Menschen. Trotz vielfacher Debatten scheint die Europäische Union wie blockiert in der Frage, wie mit dem Thema Migration und Asyl innerhalb der Staatengemeinschaft umzugehen ist. Als Reaktion gründet sich in Deutschland der Verein „Jugend rettet“. Mit ihrem Schiff, der „Juventa“, stechen die jungen Helferinnen und Helfer in See, um dem Sterben auf dem Mittelmeer zumindest etwas entgegenzusetzen. Weitere Nichtregierungsorganisationen folgen, zeitweise sind neun von ihnen aus ganz Europa an Rettungsaktionen beteiligt.
Zuspruch für Rechtspopulisten
Mit den steigenden Flüchtlingszahlen erhalten immer mehr rechtspopulistische Parteien Zuspruch. Bei den italienischen Parlamentswahlen gewinnt die rechte Lega von Matteo Salvini 12,5 Prozent mehr Wählerstimmen als im Jahr 2013. Sie tritt nun als Juniorpartner in eine Regierung mit der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung ein, Salvini wird Innenminister. Bis heute rühmt er sich für sein hartes Vorgehen gegen die privaten Seenotretter. Durch zahlreiche Dekrete können deren Schiffe wochenlang in italienischen Häfen festgesetzt werden, Helferinnen und Helfer werden kriminalisiert.
In der EU-Asylpolitik ist in den zehn vergangenen Jahren wenig passiert. Die meisten Mitgliedstaaten halten trotz zahlreicher Debatten am alten Prinzip fest, dass das Land, über das ein Asylbewerber in die EU eingereist ist, für diesen zuständig ist. Festgelegt wurde das 2003 in der sogenannten Dublin-II-Verordnung – eine im Kern deutsche Erfindung, um Schutzsuchende von Deutschland möglichst fernzuhalten.
Neue Negativrekorde auf Lampedusa
Zehn Jahre nach dem 3. Oktober 2013 laufen wieder Bilder über die Bildschirme von langen Schlangen von kleinen Metallbooten an der Mole von Lampedusa, deren Insassen darauf warten, an Land gehen zu können. Von Rekorden ist wie in den vergangenen Jahren oft zu hören. In nur 24 Stunden kamen am 12. September mehr als 100 Boote mit rund 5.000 Menschen auf Lampedusa an.
Seit 2014 bis heute zählt die Internationale Organisation für Migration (IOM) mehr als 28.000 Menschen, die entweder im Mittelmeer bei der Überfahrt nach Europa ihr Leben verloren haben oder vermisst werden. „Das ist Völkermord, eine Tragödie“, sagt Giuseppina Nicolini, die 2013 auf Lampedusa Bürgermeisterin war. „Wie viele mehr braucht es denn noch, bis verstanden wird, dass ganz Europa diese große, unfassbar große Schande mit sich trägt?“ (epd/mig) Aktuell Panorama
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