„Historisch“ oder „gefährlich“?
EU-Staaten erzielen Durchbruch im Streit um Verordnung für Asylreform
Erst blockierte Deutschland, dann Italien. Nun haben sich die EU-Staaten nach wochenlangem Ringen auf eine gemeinsame Position für einen umstrittenen Teil der geplanten Asylreform geeinigt. Die einen nennen es „historisch“, die anderen „gefährlich“.
Von Ansgar Haase und Regina Wank Mittwoch, 04.10.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 04.10.2023, 17:29 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die EU-Staaten haben nach wochenlangem Streit über ein Kernelement der geplanten Asylreform einen Durchbruch erzielt. Es gebe eine gemeinsame Position zu den Vorschlägen der EU-Kommission für die umstrittene Krisenverordnung, teilte die spanische EU-Ratspräsidentschaft am Mittwoch auf der Plattform X mit. Mehrere Diplomaten bestätigten die Einigung, die wichtige Gespräche mit dem Europaparlament für den Abschluss der Asylreform ermöglicht. Die Bundesregierung stellte den Kompromiss auch als eigenen Erfolg dar, obwohl bei den Plänen lange wegen ihrer Bedenken nichts voranging.
Um die Krisenverordnung wurde in den vergangenen Wochen intensiv gerungen. Sie ist ein zentrales Element der geplanten EU-Asylreform. Über sie könnte etwa bei einem besonders starken Anstieg der Migration der Zeitraum verlängert werden, in dem Menschen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden können. Zudem könnte der Kreis der Menschen vergrößert werden, der für die geplanten strengen Grenzverfahren infrage kommt. Generell sehen die Pläne für die EU-Asylreform zahlreiche Ergänzungen und Verschärfungen vor, um unerwünschte Geflüchtete zu begrenzen.
Mit Blick auf die Krisenverordnung hatten vor allem die Grünen innerhalb der Bundesregierung humanitäre Bedenken. Sie befürchteten, dass die Schutzstandards für Flüchtlinge zu stark abgesenkt werden könnten. Nachdem der Druck von Partnerländern gestiegen war, gab Berlin in der vergangenen Woche den Widerstand auf. Nach Angaben aus Regierungskreisen hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) informell von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht hat und angeordnet, den Widerstand gegen die Krisenverordnung aufzugeben. Scholz sprach am Mittwoch nach der Einigung von einem „historischen Wendepunkt“.
Ungarn und Polen sind die Vorschläge nicht scharf genug
Sah es vergangene Woche dann zunächst nach Bewegung im Streit um die Krisenverordnung aus, sperrte sich Italien wegen der Rolle privater Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer. Rom stimmte nun aber ebenfalls im Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten dem Kompromiss zu. Nach Angaben von Diplomaten setzte die rechte Regierung von Giorgia Meloni durch, dass eine Formulierung gestrichen wird, die die Anwendung von Krisenmaßnahmen nach der Ankunft vieler Geflüchteter wegen Seenotrettungseinsätzen verbieten sollte. Ungarn und Polen stimmten gegen den Entwurf zur Krisenverordnung, ihnen sind die Vorschläge nicht scharf genug. Die nötige Mehrheit wurde aber dennoch erreicht. Österreich, Tschechien und Slowakei enthielten sich.
Auch wenn es nur kleinere Zugeständnisse an Deutschland gab, verbuchte Außenministerin Annalena Baerbock die Verständigung als Erfolg. „Wir haben in Brüssel bis zur letzten Minute hart und erfolgreich darum gerungen, dass es nicht zu einer Aufweichung von humanitären Mindeststandards wie dem Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung kommt“, sagte die Grünen-Politikerin laut Mitteilung. „Durch unseren Einsatz haben wir zudem sichergestellt, dass die Regelungen der Krisenverordnung nur in sehr stichhaltig begründeten Fällen überhaupt gezogen werden können.“ Bundesinnenministerin Nancy Faeser erklärte, dass auf deutsche Initiative wichtige Änderungen umgesetzt worden seien.
Deutschland setzt nur wenige Veränderungen durch
Letztlich konnte Deutschland aber gegenüber dem früheren Vorschlag nur noch wenige Veränderungen durchsetzen. Vor allem für die Grünen gilt dies als bitter, weil sie erneut Entscheidungen mittragen mussten, die sie ursprünglich nicht akzeptieren wollten.
Amnesty International kritisierte laut einer Mitteilung: „Dieses Abkommen birgt die Gefahr, dass Menschen an den Grenzen Europas festsitzen, inhaftiert oder mittellos bleiben, und trägt nicht dazu bei, den Schutz von Asylbewerbern in der EU zu verbessern.“ Es sei „gefährlich“, Asylsuchenden ihr Recht zu verweigern, und noch dazu eine unverhältnismäßige Reaktion auf Situationen, „mit denen Länder nach den bestehenden Regeln durchaus umgehen könnten“, hieß es weiter.
Nach der Einigung auf Ebene der Regierungen der EU-Staaten soll nun schnellstmöglich mit dem Europaparlament eine Verständigung über das Reformprojekt erzielt werden. „Hier stehen uns harte Verhandlungen bevor, für die wir aufgrund der Verzögerung im Rat nur noch wenige Monate haben“, sagte die SPD-Europapolitikerin Birgit Sippel.
Die Zeit drängt
Projekte, die bis zur Europawahl im Juni 2024 nicht mit den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt sind, könnten anschließend wieder infrage gestellt werden und sich lange verzögern. Im Fall der geplanten Reform des Asylsystems wäre dies ein besonders großer Rückschlag. An dem Projekt wird bereits seit Jahren gearbeitet. Vor allem rechte Parteien wie die AfD werfen der EU seit langem Versagen im Kampf gegen die sogenannte „irreguläre Migration“ vor. Gemeint sind Geflüchtete, die ohne gültige Einreisepapiere kommen, sich allerdings nicht mehr „irregulär“ aufhalten, sobald sie Asyl begehren.
Die Zahlen der Geflüchteten steigen derzeit wieder an, liegen aber weiter weit unter den Werten aus den Jahren 2015 und 2016. Um Schleuser zu stoppen, kontrollieren mehrere mitteleuropäische EU-Staaten vorübergehend wieder verstärkt an einem Teil ihrer Grenzen. Die Slowakei beschloss am Mittwoch die Entsendung von Polizisten an die Südgrenze zu Ungarn. Zuvor hatten die Nachbarländer Tschechien, Polen und Österreich mit verschärften Kontrollen an der Grenze zur Slowakei begonnen.
Die verschärften Kontrollen sind nach den Worten von Bundesinnenministerin Faeser mit Deutschland eng abgestimmt. Bereits vor einer Woche hatte sie „zusätzliche flexible Schwerpunktkontrollen an den Schleuserrouten an den Grenzen zu Polen und Tschechien“ angeordnet. (dpa/mig) Leitartikel Politik
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Vorsicht beim Übernehmen eines euphemistischen Framings. Das ist keine Reform, das sind Zumutungen, die die Grundrechte schutzsuchender Menschen – einschließlich von Kindern und Jugendlichen – fundamental verletzen. Letztlich ist es der Kotau vor den rechten Parteien in Europa.