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Landesparteitag im Südwesten

Kompromiss oder Kritik? Wie die Flüchtlingspolitik die Grünen spaltet

Flüchtlingspolitik ist das Thema, das fast alles überlagert. Beim Landesparteitag der Grünen zeigt sich, dass die Regierungspartei alles andere als einig ist. Der Ministerpräsident ruft zum Kompromiss auf, es hagelt aber auch scharfe Kritik.

Sonntag, 15.10.2023, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 15.10.2023, 14:51 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Hilferufe aus den Kommunen, wachsende Flüchtlingszahlen und starke Ergebnisse der AfD bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen: Unter diesem Eindruck haben die baden-württembergischen Grünen bei ihrem Landesparteitag kontrovers und emotional über das richtige Vorgehen in der Asylpolitik diskutiert – und gezeigt: In der Frage ist die Partei tief gespalten.

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Ministerpräsident Winfried Kretschmann rief seine Parteifreunde zu Kompromissen auf. „Wenn wir im Namen der Humanität die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft auf Dauer massiv überfordern, dann werden wir die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger verlieren“, warnte Kretschmann bei der 43. Landesdelegiertenkonferenz seiner Partei am Samstag in Weingarten bei Ravensburg. „Das Ergebnis einer solchen Politik wäre dann nicht mehr, sondern weniger Humanität.“ Die Krise habe die Wucht, das demokratische Gemeinwesen zu erschüttern. „Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen“, sagte er.

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Die Lage sei ernst, warnte Kretschmann. „Unsere Kommunen sind im Modus der Überlastung.“ Sowohl bei der Unterbringung als auch beim Personal. Ob in Kitas, Schulen, Behörden oder bei der Betreuung der Geflüchteten: „Überall haben wir einen dramatischen Mangel an Personal und auch die Kräfte der vielen ehrenamtlichen Flüchtlingshelferinnen und Helfer schwinden“, sagte Kretschmann. Nur wenn die „irreguläre Migration“ gesenkt werde, könne man den Menschen gerecht werden, die tatsächlich vor Krieg und Vertreibung Schutz suchten – gemeint sind Geflüchtete, die aus naheliegenden Gründen ohne gültige Dokumente in das Land kommen.

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Kretschmann verteidigt „Migrationspaket“

Der Ministerpräsident verteidigte das „Migrationspaket“ der Ampel-Koalition und die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz. „Das ist der richtige Weg. Davon bin ich ganz fest überzeugt“, sagte Kretschmann. Die Länder hatten den Bund am Freitag dazu aufgefordert, effektive Maßnahmen zur Beschleunigung der Asylverfahren zu ergreifen, unerlaubte Einreisen etwa durch stationäre Grenzkontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Polen zu unterbinden und die Voraussetzungen zur Einführung einer bundesweit einheitlichen Bezahlkarte für Asylbewerber zu schaffen.

Seine Partei rief Kretschmann dazu auf, mit Kompromissen nicht zu hadern. „Ich schöpfe Kraft und Zuversicht aus Kompromissen, weil sie bewirken etwas. Das ist der Rat eines alten Fahrensmanns in der Politik.“

Junge Grüne widersprechen Kretschmann entschieden

Jüngere Mitglieder der Partei sahen das völlig anders und machten ihrem Unmut über Kretschmanns Haltung deutlich Luft. „Mir bereitet das Sorge und ich halte die Richtung, die unsere Landesregierung da eingeschlagen hat, für falsch“, sagte die Co-Vorsitzende der Jugendorganisation der Partei, Elly Reich. „Ich frage mich: Wenn wir als Grüne jetzt für Begrenzungen sind, weil der Gegenwind stark ist, tragen wir es dann irgendwann, wenn der Gegenwind nur stark genug ist, auch mit, wenn das Recht auf Asyl abgeschafft wird?“

Vor allem eine Geldkarte für Geflüchtete lehnten die Kritiker von Kretschmanns Kurs vehement ab. Diese werde dazu führen, dass am Ende Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter entscheiden könnten, wofür Flüchtlinge Geld ausgeben dürften, kritisierte Reich. „Wir werden mit der Geldkarte in keiner Weise dafür sorgen, dass weniger Menschen flüchten müssen und Schutz bei uns suchen, sondern ausschließlich dafür, dass wir Menschen das Grundrecht entziehen, frei und unbestimmt in diesem Land zu leben“, kritisierte auch Maurits Freudenmann aus dem Ulmer Kreisverband, ebenfalls Mitglied im Landesvorstand der Grünen Jugend.

Flüchtlingspolitik wirkt sich auf Wahl aus

Thomas Gönner, auch Mitglied im Vorstand der Grünen Jugend und Gemeinderat in Baden-Baden, kritisierte den Verweis auf die Not der kommunalen Ebene. „Die Diskussionen über eine Geldkarte oder Obergrenzen bringen unseren Kommunen nichts“, sagte Gönner. Das werde auch von niemandem gefordert, der in der kommunalen Praxis unterwegs sei. „Stattdessen brauchen wir dringend die finanziellen Mittel, rasch Wohnraum und Personal-Kapazitäten aufzubauen“, sagte Gönner.

Die Debatte über die Flüchtlingspolitik wirkte sich am Ende auch in Wahlergebnissen aus. Die Co-Landesvorsitzende Lena Schwelling wurde mit 74,4 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Vor zwei Jahren hatte die 31-Jährige noch 77,8 Prozent der Stimmen erhalten. Schwelling wird dem Realoflügel der Partei zugerechnet und hatte vor Beginn des Parteitages im SWR den linken Parteiflügel davor gewarnt, Vorschläge zur Verschärfung der Asylpolitik reflexhaft abzulehnen. Ihr Partner in der Doppelspitze der Partei, Pascal Haggenmüller, der zum linken Parteiflügel zählt, erhielt dagegen mit 95 Prozent gut fünf Prozentpunkte mehr als noch vor zwei Jahren.

Einigkeit beim Thema Hamas und Israel

Einigkeit zeigte die Partei bei der Verurteilung des Terrorangriffs der Hamas auf Israel. Zu Beginn des Parteitags hatten die gut 200 Delegierten einen Dringlichkeitsantrag beraten und dem Land die volle Solidarität der Partei versichert. Landtagspräsidentin Muhterem Aras forderte, die Zusammenarbeit der Politik mit muslimischen Verbänden zu überprüfen. „Ich finde, wir müssen uns jetzt ehrlich machen: Wenn wir vieles auf den Prüfstand stellen, dann müssen wir auch die Zusammenarbeit mit diesen Verbänden auf den Prüfstand stellen“, sagte Aras. Als Grund nannte sie die Reaktion der Verbände auf den Angriff der Hamas auf Israel. Diese sei scheinheilig und relativierend gewesen.

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, der als aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge von Ministerpräsident Kretschmann gilt, rief die Mehrheitsgesellschaft zu mehr Einsatz gegen Judenhass auf. Meist seien es Jüdinnen und Juden, die nach Angriffen Trauerkundgebungen organisierten. „Warum eigentlich? Warum müssen Juden immer daran erinnern, was passiert? Warum schafft es nicht mal die Mehrheitsgesellschaft? Wo sind wir jetzt gerade? Wo sind unsere Massenkundgebungen?“, sagte Özdemir, der für seine Rede langanhaltenden Applaus bekam, am Sonntag. (dpa/mig) Aktuell Politik

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