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Rosa Fava, MiGAZIN, Meinung, Rassismus, Diskriminierung, Kommentar
Rosa Fava © Zeichnung: MiG

Süßigkeiten auf der Sonnenallee

Rassismus benennen, Antisemitismus adressieren

Anders als bei der Stigmatisierung Neuköllns nach dem Silvester- und Schwimmbad-Hype ist die räumliche Verortung antisemitischer Akteur:innen keine rassistische Externalisierung von Gewalt, sondern Voraussetzung für Solidarität.

Von Montag, 23.10.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 23.10.2023, 11:30 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Als einer der ersten skandalisierte der Journalist Julius Geiler auf X (ehem. Twitter), dass Mitglieder oder Unterstützer:innen des angeblichen Solidaritätsnetzwerks Samidoun Baklava und andere Süßigkeiten verteilten, um die Angriffe der Hamas auf israelische Zivilist:innen am 7. Oktober fast in Echtzeit zu feiern. Geiler konnte sich dabei auf Social Media-Posts beziehen, die Samidoun-Deutschland selbst teilte; inzwischen ist der Account auf X suspendiert. Propagandistisch schreibt Samidoun auf Arabisch und Deutsch vom „Widerstand des palästinensischen Volkes“ und der „Feier des Sieges des Widerstands“. Was die Samidoun-Anhänger:innen den Passant:innen als Grund für die überraschende Freude nannten, ist nicht überliefert.

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In wenigen Kommentaren von sachlichen Bewertungen zum rassistischen Ressentiment

Selbst fassungslos bezeichnet der Journalist dies als „Terrorverherrlichung“. Einige Kommentator:innen fragen, ob dies strafrechtlich verfolgbar sei als „Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung“ gemäß der entsprechenden Paragrafen oder als „Volksverhetzung“ und „Anstachelung zum Hass“ oder ob die Organisation verboten werden könne. Andere wiederum sprechen von „arabischen Clans“, die die Sonnenallee beherrschten, verbreiten die eigenen rassistischen Ressentiments („Ich will keine Araber mehr bei uns“) oder wollen wahlweise die Samidounanhänger oder „alle“ ins Flugzeug „auf den Heimweg“ setzen, unabhängig davon, ob sie „inzwischen“ einen deutschen Pass besäßen oder nicht – dass niemand immer schon Deutsches so etwas tue, scheint klar. Weiter gibt es verschiedene mehr oder weniger hämische Verweise auf „unsere tolle Innenministerin“ und den „Import“ von Antisemitismus.

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„Vor allem in den Kommentierungen der Kommentare zeigen sich tieferliegende Schichten niederen Hasses.“

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Insgesamt scheinen die Leser:innen und Follower:innen des Journalisten der gebildeten bürgerlichen Mitte der Gesellschaft zu entstammen, und – je nach Sichtweise – dennoch oder deshalb ist der Weg vom Erschrecken angesichts der Freude über die Massaker der Hamas und der perfiden Umdeutung zu „Widerstand“ bis zum rassistischen Ressentiment nicht weit. Vor allem in den Kommentierungen der Kommentare zeigen sich tieferliegende Schichten niederen Hasses.

Rassistische Reinheitsphantasien sind keine Problemlösung

Gerade weil die ersten Stellungnahmen teils juristisch informiert die Möglichkeiten zur Ahndung der scheinbar harmlosen Handlung anzeigen, noch ohne das Motiv des Antisemitismus zu nennen, lassen sich die rassistischen Deutungen und rechtspopulistischen ‚Lösungsvorschläge‘ so gut erkennen: Rassismus verzerrt die Wahrnehmung und setzt vereinfachende Deutungsschablonen auf komplexe Realitäten und Rassismus will Triebabfuhr anstelle von Problemlösung. Wer die tatsächlich begangenen strafrechtlich relevanten Handlungen und deren niedere Motivlagen zum Ausgangspunkt nimmt, um die Täter – auf Fotos sind meist Männer bzw. männliche Jugendliche zu sehen – zur Verantwortung zu ziehen und vielleicht Nachahmung und Wiederholung zu verhindern, zieht das Gesetz und seine Interpretationsmöglichkeiten heran. Wer seine rassistischen Impulse anspringen lässt, ‚erklärt‘ die Handlungen mit dem Wesen einer Feindgruppe („Araber“ und deren ‚den Rechtsraum beherrschende Clans‘) und verbreitet de facto rassistisches Wissen – Ahndung und Strafe interessieren gar nicht mehr. Ebenso wenig interessiert sich die „alle abschieben“-Fraktion für die konkrete Tat und deren Verfolgung, hier geht es nur um ein Ventil zur Abfuhr von pauschaler Feindlichkeit und völkischen Reinheitsphantasien.

Anknüpfungspunkt stigmatisierende Neukölln-Diskurse

„Nach dem Sylvester- und Schwimmbadhype … wirkt die Baklava-Story altbekannt.“

Oberflächlich betrachtet scheint es, als wäre der mediale Diskurs um „Süßigkeiten auf der Sonnenallee“ eine Neuauflage der Stigmatisierung von Neukölln: Nach dem Sylvester- und Schwimmbadhype, nach immer wiederkehrenden ‚(Schein-)Debatten um „Clankriminalität“ und Gewalt gegen Lehrkräfte sowie Verachtung ‚unserer Rechtsordnung‘ an Schulen wirkt die Baklava-Story altbekannt: Mit fast immer demselben Foto wird das Bild feiernder Massen auf der gesamten Sonnenallee oder gleich im ganzen migrantischen Neukölln evoziert und in Verbindung mit weiteren größeren oder kleineren Versammlungen mit vielen palästinensischen Fahnen gebracht, meist an derselben Stelle der langen Sonnenallee. „Sonnenallee“ und „Neukölln“ funktionieren als Chiffre, auch wenn die meisten antisemitischen Vorfälle im Zusammenhang mit den Massakern der Hamas, folgt man den jüngsten Zahlen der RIAS-Meldestelle, in Mitte begangen wurden.

Die Massaker der Hamas als unhintergehbare Realität

Tatsächlich aber funktioniert es gerade nicht, die Analyse der genannten Diskursereignisse und medial-polizeilichen Konstruktionen „Silvestergewalt“, „Clankriminalität“ etc. schablonenhaft auf die jüngsten Geschehnisse zu übertragen. Auch wenn das schnell formelhaft geronnene Ereignis „Süßigkeiten auf der Sonnenallee“ sofort zum Container für allgemeine Ideologeme über Gewalt und Antisemitismus von „Arabern“, „Muslimen“ etc. wurde und an die bestehende Verräumlichung von Rassismus im Neukölln-Stereotyp anknüpft, gibt es eine Differenz ums Ganze.

Bei der „Jugendgewalt“ zu Silvester und in Schwimmbädern, ähnlich in Bezug auf „kriminelle Clans“ und vergleichbar mit Blick auf das Phänomen von Verwahrlosung und gewaltförmigen Zuständen an Schulen geht es immer wieder darum, gesellschaftliche Probleme zu personifizieren und zu externalisieren. Mittels kulturalisierender Wahrnehmungs- und Deutungsmuster werden Problemlagen nicht strukturell und unter Berücksichtigung komplexer Wirkungsgefüge betrachtet, sondern auf die Präsenz rassifizierter Personengruppen, ihrer als nichtdeutsch definierten Werte und Handlungsweisen reduziert.

„Die rassistischen Deutungen und Instrumentalisierungen der „Süßigkeiten auf der Sonnenallee“ für die Verschärfung der Ausländer- und Migrationspolitik und Scheinhandeln gegen Antisemitismus müssen beim Namen genannt und bekämpft werden.“

Der Einfall der Hamas in Israel, der Überfall auf die Menschen in Kibbuzim, auf einem Rave und wo sie angetroffen wurden, ist keine solche gesellschaftliche Problemlage. Die grausamen Morde und Zerstörungen aus islamistischer und antisemitischer Motivation sind kein hiesiges Diskursereignis. Die Mitglieder der Hamas und ihre Unterstützer:innen sind materiell Handelnde und verantwortliche Verbrecher. Organisationen in Berlin, die sich auf Hamas und vergleichbare Akteure beziehen oder in solidarischer oder organisatorischer Verbindung stehen, genauso wie nichtorganisierte Anhänger:innen sind ebenso ein materielles Problem sowie verantwortlich Handelnde und kein medial-polizeiliches Konstrukt. Hier wird keine bereits marginalisierte und stigmatisierte, rassistisch konstruierte Bevölkerungsgruppe zum Sündenbock stilisiert, um strukturelle Probleme zu personifizieren und ein Ventil für populistische Ressentiments zu schaffen oder die Umsetzung autoritärer Maßnahmen anzubahnen.

Namen und Adressen benennen

Die rassistischen Deutungen und Instrumentalisierungen der „Süßigkeiten auf der Sonnenallee“ für die Verschärfung der Ausländer- und Migrationspolitik und Scheinhandeln gegen Antisemitismus müssen beim Namen genannt und bekämpft werden. Gerade dazu ist es umso wichtiger, ebenso die konkreten Akteure und ihre Versammlungs-, Organisations- und Rückzugsräume zu benennen. Viele unterschiedliche antisemitische Gruppen und Organisationen in Berlin haben Namen und Adresse. Auch wenn diese nicht „Sonnenallee“ und „Neukölln“ heißen, liegen sie auch dort. Distanzierung, Entsolidarisierung und Bekämpfung brauchen konkrete Adressat:innen, ihre Benennung ist kein Rassismus, sondern Solidarität gegen Antisemitismus. Meinung

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