Potenzial trifft Mangel
Afrikanische IT-Experten für Europa
Laut einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom fehlen in Deutschland 137.000 IT-Spezialisten - Tendenz steigend. Ein Kölner Start-up bringt afrikanische Programmiererinnen und Programmierer mit europäischen Kunden zusammen.
Von Bettina Rühl Donnerstag, 26.10.2023, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 26.10.2023, 14:14 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Matthew Darwa weiß sehr genau, was er erreichen will. „Ich möchte 1.000 Arbeitsplätze in meiner Heimat schaffen“, sagt der ghanaische IT-Experte. Mit diesem Ziel kam er 2019 aus Großbritannien nach Ghana zurück.
Jetzt steht Darwa in einem Großraumbüro im zwölften Stock eines Büroturms in der Hauptstadt Accra. Etwa 20 Programmiererinnen und Programmierer arbeiten hier – ein Zehntel aller Angestellten des Unternehmens AmaliTech in Ghana. Darwa ist dessen „Chief of Operations“ für Afrika. In Ruanda hat die Firma etwa 100 weitere Stellen geschaffen.
Europa hat den Mangel, Afrika das Potenzial
Gründer und Geschäftsführer von AmaliTech ist der Kölner Martin Hecker. Seit einer Reise durch Afrika vor rund 40 Jahren beschäftige ihn die Frage: „Wie kann man jungen Menschen in Afrika eine Lebensperspektive geben?“ Hecker sitzt von Darwa rund 7.000 Kilometer entfernt, in einer ehemaligen Wagenbauhalle im Westen Kölns. Das frühere Fabrikgelände wird von Dienstleistern und einem Architekturbüro genutzt.
2016 reiste Hecker, inzwischen Ende 50, in einige afrikanische Länder, um zu sondieren, wo er sinnvoll etwas tun könnte. Das übliche Denkmuster drehte er einfach um: Europa hat den Mangel, Afrika das Potenzial: einen „riesigen Talent-Pool an jungen Leuten“, die zum Teil sehr gut ausgebildet sind. Sie könnten, so Heckers Idee, als IT-Experten von ihren Heimatländern aus in Telearbeit projektweise für europäische Firmen arbeiten. 2019 gründete er das gemeinnützige Unternehmen AmaliTech und fand in Darwa einen Gleichgesinnten, dem er die Leitung der Operationen in Afrika übertrug.
Entfernung vergessen
An einem der Schreibtische im Großraumbüro in Accra arbeitet der Programmierer Harrison Amoah an zwei Bildschirmen gleichzeitig. Auf dem rechten sind weiß auf schwarz die Codes zu sehen, die der 32-Jährige gerade schreibt. Auf dem linken Bildschirm kann er überprüfen, wie das, was er tut, für die Nutzenden aussieht. „Ich programmiere für einen Autobauer eine Seite für den Online-Verkauf“, erklärt Amoah.
Obwohl er seinen Kollegen beim europäischen Firmensitz des japanischen Autobauers noch nie in Person begegnet ist, fühlt er sich als Teil des Teams. Die Atmosphäre sei so gut, dass er „die Entfernung zwischen mir und den anderen total vergesse“, sagt der IT-Experte. Bezahlt wird der Ghanaer von AmaliTech.
Hohe Arbeitslosigkeit
Die Stellenanzeige des deutschen Start-ups sah er Ende 2019 eher zufällig. Gesucht wurden IT-Expertinnen und Experten für eine Weiterbildung, anschließende Übernahme – sofern gewünscht – garantiert. Ohne zu zögern, griff Amoah zu. Denn er suchte nach seinem Studienabschluss seit Monaten eine Anstellung. „Die Arbeitslosigkeit bei uns ist extrem hoch.“
„Fachlich sind die Universitätsabsolventen hier so gut, dass wir in dieser Hinsicht nichts mehr machen müssen“, erklärt Darwa. Stattdessen würden in der Weiterbildung einige Monate lang vor allem interkulturelles Wissen und andere „Soft Skills“ vermittelt. Zum Beispiel, wie man eine geschäftliche E-Mail schreibt oder Berichte nach deutschem oder europäischem Standard verfasst.
Unterschiede in der Kommunikation
Große Unterschiede gibt es außerdem in der Kommunikationsweise. In Deutschland werde einerseits weniger kommuniziert, sagt Darwa: „Wenn ein Chef nichts sagt, ist meist alles okay. Ghanaische Menschen irritiert das, sie würden Lob erwarten, wenn eine Arbeit gut war.“ Andererseits wird in Ghana weniger gefragt – und schon gar nicht offen hinterfragt – vor allem nicht von jüngeren Menschen die Arbeit von Älteren.
Für Charles Kwame Amoah Ansong, der mit Ende 20 zu AmaliTech stieß, war es zunächst ein „Kulturschock“, dass er sich in digitalen Konferenzen mit Fragen beteiligen soll und andernfalls als wenig engagiert wahrgenommen wird. Mit der Zeit gewöhnte er sich an das ungewohnte Verhalten, die Arbeit mit den europäischen Kunden habe dann Spaß gemacht.
In der Heimat Job gefunden
Mehr als 1.000 junge Menschen hätten die Weiterbildung seit 2019 bereits durchlaufen, sagt Darwa. Nicht alle blieben bei AmaliTech: Etliche fanden Arbeit in anderen Firmen in Ghana.
Amoah ist glücklich, dass er seine Heimat nicht verlassen muss und trotzdem einen Job gefunden hat. Charles Kwame Amoah Ansong hat dank der Berufserfahrung, die er bei AmaliTech sammeln konnte, eine Stelle bei einem ghanaischen Bio-Technologieunternehmen gefunden. „Viele meiner früheren Studienkollegen suchen noch immer“, sagt er. „Viele wollen Ghana verlassen. Aber eigentlich möchte niemand von Freunden und Familie weg.“ Von zu Hause aus für Firmen in Europa arbeiten zu können, hält er für die ideale Lösung. (epd/mig) Aktuell Ausland
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