Nebenan
Demokratie am Abgrund
Wer hat sich schon von wem distanziert, wer noch nicht genug, wer zu oft und zu viel von wem und vor allem: wer vom Falschen? Richtig, es geht nicht um Hamas - fast.
Von Sven Bensmann Montag, 30.10.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 30.10.2023, 6:09 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Schwupps, schon wieder 2 Wochen vergangen, und es gab kein Thema außer, naja, Sie wissen schon. Die neue GAZA-Soap immer 18:45 auf RTL, gleich nach Gute Zeiten, Schlechte Zeiten: Wer hat sich von wem distanziert, wer hat sich nicht genug distanziert, wer distanziert sich zu oft und zu viel von wem und vor allem: wer vom Falschen? Überhaupt ist ja jeder ein Nazi – solange man nur die Argumente des anderen verschweigt.
Wer glaubt, dass Demokratie, dass aufgeklärte Argumentation und Willensbildung als deren Fundament, noch funktionieren können, sieht sich spätestens hier widerlegt – wenn Klimawandel oder Russlandkrieg nicht längst in die Resignation geführt haben. Dabei fällt mir immer wieder auf, dass jedenfalls hierzulande kaum jemand unter den Palästina-Sympathisanten überzeugte Zustimmung zum Terror der Hamas äußert – ebenso wie sich niemand vom Genozid im Gazastreifen (und ja, wer sagt: Wir machen den ganzen Bums dicht, lassen kein Wasser, keine Lebensmittel, keine Medikamente, keinen Strom mehr rein und niemanden mehr raus, bis diese Tiere alle verreckt sind, äußert damit das Vorhaben eines Genozids) begeistert zeigt – es wird lediglich immer nur von der anderen Seite unterstellt.
Überhaupt: denen, die eine solche Praxis anprangern, Antisemitismus zu unterstellen, selbst wenn sie der UN vorsitzen, ist mittlerweile gelebte und akzeptierte Diskussionskultur. Das geht mittlerweile so weit, dass selbst jüdischen Intellektuellen, die sich für das Demonstrationsrecht von Menschen mit anderen Meinungen einsetzen (Schluck!), deswegen bereits Antisemitismus unterstellt wird. Und das, weil’s so schön war, nochmal fürs Protokoll: Eine russisch-deutsche Journalistin einer linken deutschen tageszeitung verbietet Jüdinnen und Juden, die ihre Meinung äußern und sich damit für demokratische Prinzipien aussprechen, ebendiese Meinung, weil die antisemitisch sei. Ja geht’s denn noch?
„Die demokratische Diskussionskultur in diesem Lande ist nachhaltig gestört.“
Dem zu unterstellen, es sei „hirnverbrannt“ wäre wohl noch eine Untertreibung. Aber Jüdinnen und Juden das Wort zu verbieten, das kennt man aber ja aus Deutschland – jedenfalls aus den 30ern. „Die Nazis von der taz mal wieder!“
Jetzt fang ich auch schon damit an. Bah!
Aber ich sag‘s ja: Die demokratische Diskussionskultur in diesem Lande ist nachhaltig gestört, alle anderen sind nur noch Nazis, niemand hat mehr die Zeit oder die Lust, sich die Argumente des anderen anzuhören und dann im Einzelfalle zu beurteilen: Sind diese Argumente valide oder nicht? Stattdessen reicht es dem denkfaulen Pack vor den Rechnern, in den Büros und auf der Straße, festzustellen: Der/die ist auf der anderen Seite als ich, also muss er oder sie ein Nazi sein.
Sicher, früher gab es diese Art von Diskussion auch schon. Auf Twitter, auf Facebook, womöglich auch in der „Bild“ – dass diese Medien unsere Gesellschaft mittlerweile aber so vergiftet haben, dass es zu gar keiner ehrlichen Diskussion mehr kommen kann, das hat mich – selbst nach der bereits hochgradig polarisierten öffentlichen Diskussion um den Überfall Russlands auf die Ukraine – dann doch überrascht.
Und ganz ehrlich: Wenn das ist, wie wir zukünftig öffentlich diskutieren wollen, dann können wir es auch einfach ganz lassen.
„Zum Wesen einer Demokratie gehört es, auch kontroverse Themen auf zivile Weise auszuhandeln.“
Zum Wesen einer Demokratie gehört es, auch kontroverse Themen auf zivile Weise auszuhandeln, einen gemeinsamen Willen zu formen und Dissens auszuhalten, wo Konsens nicht möglich ist. Zur Demokratie gehören vor allem auch die, die Israel laut seines Botschafters in Deutschland explizit nicht braucht (eine herausragende Formulierung, weil sie so schön unverbindlich menschenverachtend ist): Die „Besserwisser“, die, „die Ja, aber sagen“, die „erhobenen Zeigefinger“. Wenn Israel solche Menschen nicht will und braucht, sagt das vieles über die israelische Gesellschaft aus; als Deutscher kann ich dazu nur voller Überzeugung sagen: Es sah ziemlich dunkel aus in diesem Lande, als hier zuletzt so gesprochen wurde. Und das letzte Mal, als wir irgendwem „uneingeschränkte Solidarität“ versprochen haben, marschierten wir anschließend direkt in einen völkerrechtswidrigen Krieg, der unfassbar viel Leid verursachte und der mit dem kleinlauten Eingeständnis der Niederlage gegen ein zurückgebliebenes Land und seine Armee von religiös-fanatischen Bauern endete.
Dass da wiederum ausgerechnet jetzt ein US-amerikanischer Diplomat behauptet, durch verweigerte blinde Zustimmung zu Gewalt verlöre Deutschland eine moralische Autorität, die es sich mit dem Aufarbeiten seiner Vergangenheit erarbeitet hätte, ein Diplomat eines Landes also, für das Moral seit Jahrzehnten keine Rolle spielt und stattdessen stets die Mittäterschaft seiner Alliierten zu seinen militärischen Abenteuern einfordert, ist der Gipfel einer faschistoiden Ideologie, von Schwarzweißdenken, dass zu mehr Gewalt führt, weil es nur zu mehr Gewalt führen kann und folgerichtig führen muss. Mist, schon wieder; und ich sagte ja noch: Alles Nazis!
„Solidarität mit Israel, das ist das Eine, dazu soll und muss sich Deutschland bekennen.“
Solidarität mit Israel, das ist das Eine, dazu soll und muss sich Deutschland bekennen. Israel hat einen terroristischen Angriff erlebt, der seinesgleichen sucht und der eine angemessene Reaktion erfordert. Uneingeschränkte Solidarität wäre aber Verrat an ebenjener Aufarbeitung, die Deutschland seit der Schoah betrieben hat: der Mensch ist nicht allein dadurch gut, dass er Jude oder Israeli ist, ebenso wie er nicht allein dadurch schlecht ist. Der Jude, wie der Israeli, ist in erster Linie vor allem eines: ein Mensch, wie jeder andere.
Und wenn hierzulande nun ein kleiner, keineswegs repräsentativer Teil der Bevölkerung in der nationalen Willensbildung auf Gewalt zurückgreift, ist das tragisch, ärgerlich, problematisch. Was es nicht ist: neu. Außerdem: Gewalt gegen Juden und Jüdinnen geht in diesem Lande wie immer schon vor allem von rechten Deutschen aus. Da kann die politische Rechte noch so gern von immigriertem Antisemitismus reden, weit über 80 Prozent der antisemitischen Straftaten werden hier von Deutschen begangen und dem sogenannten PMK -rechts- zugeordnet, Ablenkungsdebatten helfen da in der Sache nicht weiter.
„…dann haben wir eine Tyrannis der Stärkeren, die den Schwächeren ihren Willen aufzwingen.“
Wenn nun aber trotzdem alle auf ein Nazi-Tourette verfallen, um sich gegenseitig zu beschuldigen, gar keinen legitimen Punkt haben zu können, dann ist Demokratie nicht mehr möglich, dann haben wir eine Tyrannis der Stärkeren, die den Schwächeren ihren Willen aufzwingen. Dann können wir den Laden auch dichtmachen, eine national-soziale, starke Anführerin an die Spitze setzen und den Rest des Staates ihren Sahrafisten überlassen, während wir uns ins Private zurückziehen. Bestimmt findet sich auch dafür irgendeine des Radikalismus völlig unverdächtige Kleinstgruppe wie die Exil-Iraner (welchen Grund könnte die auch haben, sich ausgerechnet mit Irans Erzfeind Israel zu solidarisieren?), die dann wie eine Monstranz als Ausweis der eigenen Gutheit vor den Karren gespannt werden kann. Was machen die Kurden eigentlich gerade? Meinung
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Sehr guter Beitrag!!!
Insbesondere der Fakt, dass komplizierte Dinge nicht zwingend zu vereinfachen sind, ist extrem gut formuliert.
Früher (Jahrgang 1971) konnte ich nicht nachvollziehen, wie es zu Holocaust/Nazi-Deutschland kommen konnte, heute kann ich es – leider!!!
Die Beiträge auf MIGAZIN sprechen mir aus dem Herzen (und dem Kopf 😀) – toll dass es Euch und Eurer Netzwerk gibt – Vernunft an die Macht!!!
Sehr viele politische Interessengruppen in Deutschland, die nun die Schande, dass jährlich (!) gemäß den vom Bundesinnenminister jährlich proklamierten BKA-Berichten über 90% der antisemitisch motivierten Gewalt-Straftaten von deutschen Christlichen Rechtsradikalen durchgeführt wurde und wird, nicht ertragen konnten und wollten stricken nun aus dem ethnischen Palästina-Israel-Konflikt einen Muslime gegen Juden und Christen Konflikt angefeuert von den diesbezüglich bekannten Medien wie Bildzeitung, Focus, Welt und Co.. ARD und ZDF tragen ebenso wie Bild, Focus, Welt etc. mit ihrer sehr einseitigen und propagandistisch wirkenden sowie an Desinformationskampagne des DDR-Fernseh-Formates „Der Schwarze kanal“ erinnernden Berichterstattung dazu bei, dass in Deutschland alle Muslime in einen Topf geworfen und hart angeprangert werden. Am Ende des Tages werden wieder irgendwelche durch deutsche Medien, AfD-Hetze und Aussagen deutscher Politiker aufgestachelte Rechtsradikale als „Retter des Abendlandes“ in Erscheinung treten und Taten, wie in Hanau, Mölln, Solingen, Nürnberg oder den NSU-Serienmorden und Bombenanschlägen (Nürnberg und Köln) vollführen. Und die heute verantwortungslos redenden werden dann wieder wie immer nach solchen Attacken keine Verantwortung übernehmen!