Linke-Neustart
Ohne Wagenknecht, mit Rackete
Aus Sicht der Parteispitze lief der Linken-Parteitag in Augsburg rund - und besser als erwartet. Sie wähnt die Partei auf dem Weg zum Comeback - ohne Wagenknecht, dafür mit Seenotretterin Rackete und „Arzt der Armen“ Trabert Aber es warten hohe Hürden.
Von Verena Schmitt-Roschmann und Ulf Vogler Sonntag, 19.11.2023, 21:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 19.11.2023, 17:04 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Linken-Chef Martin Schirdewan gab sich sehr zufrieden am Sonntagmorgen: Programm zur Europawahl verabschiedet, Kandidatenteam aufgestellt, Kampagne zur Erneuerung der Partei gestartet – und fast niemand, der beim Parteitag der Linken in Augsburg noch den Namen Sahra Wagenknecht erwähnt hätte. „Das interessiert hier einfach niemanden mehr“, sagte Schirdewan. Dann eilte der 48-Jährige durch die Messehalle zur nächsten Live-Schalte.
Knapp vier Wochen nach dem Bruch mit ihrer früheren Ikone Wagenknecht und kurz nach dem Beschluss zur Auflösung ihrer Bundestagsfraktion hat die Linke also ein Lebenszeichen von der Intensivstation gefunkt. Schirdewan gab sich im Phoenix-Interview sogar sicher: „Wir werden gestärkt aus diesem Prozess hervorgehen.“
Die mehr als 400 Delegierten wollten das nur zu gerne glauben. Sie jubelten ihren Europa-Kandidaten zu, darunter neben Schirdewan selbst die ehemalige Seenotretterin Carola Rackete und der Mainzer Arzt Gerhard Trabert. Die Genossinnen und Genossen bestätigten sich gegenseitig, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte sei und die Linke mehr gebraucht werde denn je.
Ob und wie sich die Partei tatsächlich berappelt, ist jedoch ungewiss. Der Berliner Politikwissenschaftler Klaus Schroeder ließ sich von der Augsburger Aufbruchstimmung nicht beeindrucken. „Die Partei trudelt ihrem Ende entgegen, sie wird bald Geschichte sein“, prophezeite Schroeder im Deutschlandfunk.
Was für ein Comeback der Linken spricht
Die Parteispitze wirbt gezielt um junge Linke in der Klimabewegung oder der Flüchtlingshilfe und um Menschen, die von SPD und Grünen enttäuscht sind. Dafür sehen die Vorsitzenden Schirdewan und Janine Wissler nach der Abspaltung von Wagenknecht nun freie Bahn. Eine Rolle spielt dabei: Bei der Europawahl im Juni 2024 gilt erstmals das Wahlalter 16.
Die ehemalige Seenotretterin Rackete sagte am Rande des Parteitags, das Konzept könne aufgehen, sie spüre bereits viel Interesse in den Bewegungen. Die 35-Jährige, die mit Schirdewan im Spitzenduo zur Europawahl antritt, ist selbst Symbolfigur dieses Plans: Sie ist nicht Mitglied der Linken, die Kapitänin und Ökologin steht für Klima- und Flüchtlingsaktivismus, und wird in der Partei bewundert als authentische Person jenseits des Politikbetriebs.
Vielleicht noch mehr Euphorie stiftete in Augsburg der 67-jährige Trabert, ebenfalls parteilos, der „Arzt der Armen“, der schon für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Mit einer umjubelten Rede gegen Stigmatisierung angeblich „sozial Schwacher“ schaffte der Trabert bei der Wahl zum Europa-Listenplatz vier das beste Ergebnis des Parteitags. Die Linke stellte insgesamt 20 Kandidatinnen und Kandidaten auf, obwohl 2019 bei einem Stimmanteil von 5,5 Prozent nur fünf Mandate drin waren.
Alles zusammen – soziales Gewissen, linker Idealismus und der Verdruss über die Ampel-Parteien – sollte doch für fünf Prozent Stimmanteil reichen, so ist wohl die Erwartung der Linken-Spitze. Gelingt das bei der Europawahl, könnte es bei den Landtagswahlen 2024 und der nächsten Bundestagswahl weitergehen – und der Plan 2025 für ein Comeback wäre aufgegangen.
Mut machen sich Wissler und Schirdewan damit, dass seit Wagenknechts Ausstieg 700 Menschen in die Partei eingetreten seien und viel weniger ausgetreten. „Lasst uns die Ärmel hochkrempeln, den Rücken gerade machen, lasst uns unseren Mut zusammennehmen und gegen alle Widrigkeiten für eine solidarische Gesellschaft kämpfen“, rief Wissler in ihrer Rede beim Parteitag.
Was der Linken in die Quere kommen könnte
Die von Wissler erwähnten „Widrigkeiten“ sind allerdings vielfältig. Zum einen ziehen Wagenknecht und deren Pläne für eine neue Partei viel Aufmerksamkeit ab. Die Linke dümpelt bundesweit seit Monaten bei Umfragewerten von 4 bis 5 Prozent, während die noch gar nicht gegründete Wagenknecht Partei bei – obgleich noch nicht sehr belastbaren – 12 bis 14 Prozent liegt.
Wagenknecht trifft mit ihrer „Kleine-Leute“-Rhetorik, mit einer strikten Linie gegen Migration und aufgeweichtem Klimaschutz offenbar eher den Zeitgeist als die Linke mit ihrem Plädoyer für ein uneingeschränktes Asylrecht, für Feminismus, Klassenkampf und Sozialismus. Die Linke beteuert zwar ihren Einsatz für Arme und Arbeitnehmer und profilierte sich in Augsburg zum Beispiel mit der Forderung nach 15 Euro gesetzlichem Mindestlohn. Viele traditionelle Wähler, auch in Ostdeutschland, scheinen trotzdem skeptisch.
Ganz praktisch dürfte nicht nur die angekündigte Auflösung der Linksfraktion im Bundestag der Partei politische Schlagkraft nehmen. Es lauert noch eine andere Tücke: Am 19. Dezember verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur Wiederholung der Bundestagswahl 2021 in Berlin. Das Schreckensszenario für die Linke: Die Pannenwahl von damals muss komplett wiederholt werden und die Partei verliert eines ihrer beiden Berliner Direktmandate.
Die Linke hatte 2021 die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt und war nur über eine Sonderklausel wegen des Gewinns von drei Direktmandaten mit 39 Abgeordneten ins Parlament gekommen. Ist ein Direktmandat futsch, verlieren nach gängiger Rechtsauffassung auch die 36 Abgeordneten ihren Sitz, die damals von der Grundmandatsklausel profitierten. Darunter ist übrigens auch Sahra Wagenknecht. (epd/mig) Aktuell Politik
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