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Was kostet die Macht?

Grüner Parteitag vor Grundsatzfragen: Asyl und Migration

„Machen, was zählt“ - das Motto des Grünen-Parteitags diese Woche strotzt vor Gestaltungswillen. Doch wie viele Kompromisse ist die Macht wert? Die Frage wird die Delegierten umtreiben, wohl ganz besonders bei einem Thema.

Von Dienstag, 21.11.2023, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.11.2023, 12:32 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Bei den Grünen verschiebt sich etwas, da sind sich Befürworter und Kritiker einig. Führende Grüne schlagen härtere Töne in der Migrationspolitik an, als Teil der Ampel-Koalition stimmen ihre Minister verschärften Abschieberegeln zu. Was Teilen der Partei übel aufstößt, steht für eine größere Frage. Sie wird auch beim Parteitag ab Donnerstag in Karlsruhe verhandelt: Agieren die Grünen als lösungsorientierte Pragmatiker? Oder sind sie „von einer Partei für echte Veränderung zu einer Werbeagentur für schlechte Kompromisse“ geworden – wie die Unterzeichner eines offenen Briefes jüngst bissig beklagten?

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Kompromisse können die Grünen. Die Liste reicht von A wie Asylrechtsverschärfungen bis weit hinter F wie Flüssiggas-Terminals. Entsprechende Aufzählungen rattern Grüne gern herunter, wenn man sie mit dem gern erhobenen Ideologie-Vorwurf konfrontiert (O-Ton CDU-Chef Friedrich Merz: „Die Grünen müssen an die Wirklichkeit anschlussfähig bleiben“). Zu anschlussfähig, zu willfährig, meinen interne Kritiker. „Die Leute wollen uns kämpfen sehen“, glaubt ein Grüner, der als Abgeordneter auf Landesebene aktiv ist.

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Hessen: Abfuhr durch maximale politische Gelenkigkeit

Dass selbst maximale politische Gelenkigkeit nicht zwangsläufig zur Macht führt, hat die Abfuhr des hessischen CDU-Ministerpräsidenten Boris Rhein an den einstigen Koalitionspartner gezeigt. Aus der Berlin-Wahl wiederum könnte man schlussfolgern, dass ein tiefgrüner Kurs kein Garant für eine Regierungsbeteiligung ist.

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Kristallisieren dürfte sich die Grundsatzfrage wie schon beim kleinen Parteitag im Sommer am Umgang mit der Migration. Die etwas härtere Linie – einige Spitzengrüne habe auch damit zu tun, was grüne Kommunalpolitiker von der teils schwierigen Lage vor Ort berichteten – hört man. Der Bundesvorstand müht sich in seinem Antrag indes um maximale Ausgewogenheit: „Wir wollen Kapazitäten ausbauen, die soziale Infrastruktur stärken und tragfähige Strukturen schaffen. Daneben müssen, wo die Kapazitäten erschöpft sind, durch rechtsstaatliche und menschenwürdige Maßnahmen auch die Zahlen sinken. Eine Obergrenze ist weder machbar noch rechtens noch human.“

Grüne rote Linien der Jugend

Der Grünen Jugend geht das nicht weit genug. „Wir fordern, dass Grünenpolitiker keinen weiteren Asylrechtsverschärfungen zustimmen. Nicht im Kabinett, nicht im Bundestag, nicht in Europa und auch nicht in den Ländern“, sagte Co-Chefin Katharina Stolla dem „Spiegel“. Wo die rote Linie verlaufen soll, buchstabiert ein Antrag der Nachwuchsorganisation, in dem beispielhaft die Rede ist von „restriktiveren Regelungen für Rückführungen, der Kürzung von Sozialleistungen für Geflüchtete, der Absenkung von Schutzstandards, einer Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, Schnellverfahren an Außengrenzen, der Unterbringung von Flüchtenden in Außengrenzlager sowie der Zurückweisung von Flüchtenden in vermeintlich sichere Drittstaaten“. Sollte der Antrag beschlossen werden, hätten grüne Minister bei Entscheidungen in Berlin und Brüssel ein Problem – allerdings sind solche Vorstoße trotz lebhafter Debatten selten erfolgreich.

Außerdem auf der Agenda des Parteitags: Für die Europawahl im kommenden Juni sollen ein Programm verabschiedet und eine Kandidatenliste aufgestellt werden.

Ihr Führungspersonal stellt die Partei nicht ernsthaft in Frage; die Wiederwahl der beiden Parteichefs Ricarda Lang und Omid Nouripour in Karlsruhe für weitere zwei Jahre gilt als sicher. Personaldebatten hätten noch keinem geholfen, heißt es selbst von missvergnügten Mitgliedern. Und die Lage ist heikel genug mit Spannungen in der Ampel und der weiterhin schwelenden Frage, was angesichts der Milliarden-Lücke im Bundeshaushalt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem klimafreundlichen Umbau der Industrie werden soll. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP wird sparen müssen und damit stehen gerade auch Vorhaben von Wirtschaftsminister Robert Habeck plötzlich auf der Kippe.

Nicht mehr cool, sondern weltfremd

Und längst gelten die Grünen vielerorts nicht mehr als cool, sondern weltfremd. CSU-Chef Markus Söder unterstellte ihnen im bayerischen Landtagswahlkampf „zwanghafte Veganisierung“ und „zwanghaftes Gendern“ – blanker Unsinn, der aber nicht von ungefähr kommt. Die Grünen nerven wieder, gelten als regulierungswütig, auch dank des Heizungsgesetzes. Wenn es gut läuft, erzielen sie bei Umfragen Prozentwerte in den mittleren Zwanzigern – so wie im Frühjahr vor dem vergeigten Bundestagswahlkampf 2021 oder im vergangenen Sommer, als Habeck für die Absicherung der deutschen Energieversorgung kämpfte und um Beistand für die angegriffene Ukraine warb. Heute stehen die Grünen wieder bei um die 15 Prozent – auf Höhe ihres Bundestagswahlergebnisses, aber weit unter den eigenen Ambitionen.

Lang und Nouripour wollen in dieser Lage den pragmatischen, für verschiedene Koalitionen offenen Kurs fortsetzen, mit dem Annalena Baerbock und Robert Habeck die Grünen in ihrer Zeit als Parteichefs aus der Öko-Ecke bugsiert haben. Viele versuchten, die Grünen „zurück in die politische Nische zu schieben“, schreibt Lang in ihrer Bewerbung. „Aber genau dorthin werden wir uns nicht zurückziehen, denn wir werden gebraucht.“

Nouripour will Vorurteile abbauen

Und Nouripour schreibt in seiner Bewerbung trotzig: „Der Grund dafür, dass sich unsere politischen Mitbewerber so stark an uns abarbeiten, ist unsere Relevanz.“ Das mag die grüne Seele streicheln, hilft nach außen aber nicht weiter. „Wir müssen besser werden darin, Vorurteile gegen unsere Politik abzubauen oder sie durch bessere und schnellere Kommunikation erst gar nicht entstehen zu lassen“, schreibt Nouripour aber auch. Beim Heizungsgesetz, das räumen viele Grüne heute ein, blieb die Frage der finanziellen Förderung zu lange ungeklärt.

Doch nun steht für die in den vergangenen Jahren auf 126.000 Mitglieder gewachsenen Grünen erstmal der längste und größte Parteitag ihrer Geschichte an: vier Tage, neben den über 800 Delegierten auch zahlreiche Gäste aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Diplomatie, von mehr als 4.000 Anmeldungen spricht die Partei. „Und deshalb war keine Option, dass wir in die alte Halle zurückgehen, in der die Grünen sich gegründet haben 1980“, sagt Nouripour. „Das ist einfach zu klein.“ (dpa/mig) Aktuell Politik

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