Im Schatten des Gaza-Kriegs
Trauer, Wut und Angst in der Westbank
Die Feuerpause für Gaza gilt in der Westbank nicht. Dort leben Palästinenser in ständiger Angst vor militärischen Angriffen oder vor Siedlergewalt.
Von Ann-Kristin Hentschel Donnerstag, 30.11.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 30.11.2023, 12:07 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Feuerpause in Gaza. Für die Menschen in Gaza hieß das, dass sie endlich ihre Toten begraben, ihre Wunden versorgen und nach Vermissten suchen konnten – zumindest, bis es wieder losgeht. Während Gaza seine Wunden versorgt, hat die Feuerpause dem Rest der Welt eine Chance zur Einordnung dessen gegeben, was seit dem 7. Oktober passiert ist. Auch abseits von den angegriffenen israelischen Gebieten und von Gaza. Für die Westbank galt die Feuerpause nicht.
Knapp 40 Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt liegt das Westjordanland bzw. die Westbank. Hier hat man in den letzten Wochen immer wieder so etwas wie Schockwellen der Bombardierungen gespürt und konnte den Iron Dome, das israelische Raketenabwehrsystem, hören. Auch wenn es nicht weit ist, herrscht in der Westbank eine völlig andere Realität als in Gaza und auch als in Israel. Trotzdem ist der Krieg hier deutlich spürbar.
Die Palästinenser:innen der Westbank fühlen sich mit den Palästinenser:innen in Gaza verbunden. So ist auch hier seit dem 7. Oktober nichts wie zuvor. In den Städten der Westbank kommt es aktuell regelmäßig zu Demonstrationen, auf denen sich zu Trauer um die Ermordeten zunehmend Wut mischt. Wut auf die Bombardierungen, die Besatzung, aber auch auf die eigene Regierung und die Welt, die zuzusehen scheint. Hinzu kommt eine steigende Angst. Immer häufiger kommt es zu tödlichen Angriffen durch Siedler:innen oder das Militär. Seit dem 7. Oktober wurden mehr als 200 Palästinenser:innen in der Westbank getötet, knapp 3.000 wurden verletzt und es kam zu fast 3.000 Festnahmen.
Eigentlich wäre grade Olivenerntesaison, eine wichtige Zeit in der Westbank. Für viele machen Einkünfte durch Olivenprodukte einen entscheidenden Teil ihres Lebensunterhalts aus, aber auch kulturell und symbolisch haben die Olivenbäume eine besondere Bedeutung. Sie sind alt und tief verwurzelt in dem Land, um das so viel gekämpft wurde und gekämpft wird. Selbst die Olivenbäume werden immer wieder angegriffen, doch sie sind standhaft und resilient. Eigenschaften, die die Palästinenser:innen grade mehr denn je brauchen.
Angriffe durch radikale Siedler:innen
Viele trauen sich dieses Jahr nicht zur Ernte in die Olivenhaine. Das Risiko von radikalen Siedler:innen angegriffen zu werden ist zu hoch. Die israelischen Siedler:innen in der Westbank waren immer schon für ihren Extremismus und ihre Gewaltbereitschaft bekannt. Auch die letzten Wahlergebnisse zeigen, dass rechte Positionen hier weitaus verbreiteter sind, als im Rest der israelischen Gesellschaft.
Es ist ein Leben umgeben von hohen Mauern, hinter Checkpoints und Stacheldraht. Hier sind die Lebenshaltungskosten bei weitem nicht so hoch wie in Tel Aviv. Die israelische Regierung wirbt mit billigen Immobilienpreisen. Doch wer sich dafür entscheidet, hier zu leben, lebt nicht nur billiger, sondern auch auf palästinensischem Land. Von der UNO werden die Siedlungen als völkerrechtswidrig eingestuft. Für viele Siedler:innen ist hier zu leben eine bewusste ideologische Entscheidung. Radikale Siedler:innen nennen die Westbank „Judea und Samaria“. Für sie, gehört die Westbank rechtmäßig zu Israel und so sind die Palästinenser:innen, die hier leben, vielen ein Dorn im Auge.
Seit dem siebten Oktober sehen sie sich in ihrem Hass auf Palästinenser:innen bestätigt und stellvertretende Racheangriffe immer mehr als legitimes Mittel an. Aufwind kriegen sie unter anderem direkt von der israelischen Regierung. Besonders von den Rechten. Itamar Ben Gvir ist einer dieser rechtsextremen Politiker. Er lebt selbst in einer Siedlung mitten in der palästinensischen Stadt Al-Khalil/Hebron im Süden der Westbank und ist israelischer Sicherheitsminister. Berühmt für besonders rassistische Äußerungen ruft er aktuell alle Bürger:innen und speziell Siedler:innen dazu auf, sich zu bewaffnen.
Sein Ministerium habe mehreren Berichten zufolge bereits damit begonnen, Waffen an Siedler:innen zu verteilen. Dass auch das dazu beiträgt, die Situation noch weiter zu eskalieren, zeigt die steigende Zahl der Angriffe. Die Konsequenzen für diese Angriffe sind für die Siedler:innen meistens erschreckend gering, für Palästinenser:innen oft tödlich. Nicht selten werden die Siedler:innen geschützt durch die Armee, teilweise handelt es sich bei den Angreifer:innen sogar um Soldat:innen außer Dienst. Ende Oktober erschoss ein Soldat außer Dienst den 40-jährigen Palästinenser Bilal Mohammed Saleh vor den Augen seiner Familie. Er war grade bei der Olivenernte.
Razzien, Bulldozer und Drohnenangriffe
Doch nicht nur die Gefahr durch Siedler:innen ist in den letzten Wochen drastisch gestiegen. Auch tödliche Militäroperationen in der Westbank gibt es mittlerweile immer regelmäßiger. Auch wenn durch die dramatische Lage in Gaza, wenig darüber berichtet wird, spüren die Palästinenser:innen auch hier die Auswirkungen der rechten Netanyahu-Regierung und des Krieges. Bereits seit Mai spitzt sich die Lage zu, seit dem siebten Oktober erleben die Palästinenser:innen aber eine weitere Verschärfung.
Es gibt nicht nur immer mehr Militäroperationen und Razzien, sie werden auch immer größer. Mittlerweile ist es keine Seltenheit mehr, dass bei nächtlichen Militärmanövern Drohnen- und Luftangriffe eingesetzt werden oder durch Bulldozer die Infrastruktur mutwillig zerstört wird. Im Fokus dieser Angriffe standen lange die Flüchtlingscamps. Hier leben vertriebene Familien, es ist eng und die Perspektiven und Lebensbedingungen sind deutlich schlechter als im Rest der Westbank. Auch wenn es immer noch gehäuft militärische Angriffe auf die Camps gibt, ist kein Ort in der Westbank geschützt davor. Dörfer und immer häufiger auch ganze Städte werden zu Zielen.
Gerechtfertigt werden diese Operationen oft mit der Terrorbekämpfung und den Versuchen, Anhänger:innen von Terrororganisationen festzunehmen. Fakt ist, dass Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch schon lange bemängeln, dass es bei den Militäroperationen häufig zu Menschenrechtsverletzungen kommt, die vor allem Zivilist:innen treffen. Immer wieder werden Zivilist:innen getötet, Krankenwägen daran gehindert, zu Verletzten zu kommen und Journalist:innen in der Berichterstattung behindert.
Unter den Festnahmen befinden sich außerdem viele Kinder und ein großer Teil der Inhaftierten kommt in sogenannte „Administrativhaft“. Administrativhäftlinge bekommen weder eine konkrete Anklage, noch einen richtigen Prozess. Oft wissen die Inhaftierten nicht, warum sie überhaupt festgenommen wurden und erhalten keine Chance, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Viele der Inhaftierten berichten zudem von Misshandlungen bis hin zu Folter im Gefängnis und auch hier üben Menschenrechtsorganisationen immer wieder heftige Kritik.
Ich habe vor kurzem eine Nachricht von einer Freundin aus der Westbank bekommen. „Es ist beängstigend. Ich habe das Gefühl, dass ich jede Minute sterben könnte. Dann würde ich einfach nur zu einer weiteren Nummer werden“ schrieb sie. In der Westbank entsteht mehr und mehr der Eindruck, dass der Krieg kein Krieg zwischen Israel und Hamas, und auch kein Krieg zwischen Israel und Gaza ist. Stattdessen verfestigt sich die Angst, dass sich der Krieg gegen alle Palästinenser:innen richtet. Wie das dazu beitragen soll, mehr Sicherheit für alle zu schaffen, ist die große Frage. Ob das überhaupt gewollt ist, ist die andere. Aktuell befeuert es vor allem Angst und Hass. Aktuell Ausland
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