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Aleksandar Abramović, Migazin, Jugoslawien, Kroatien, Serbien, Bosnien, Krieg
Aleksandar Abramović © MiG

Jugoslawische Familien

Ein persönlicher Blick auf die Balkan-Kriege

Vor 28 Jahren unterzeichneten Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina einen Friedensvertrag. Die Zeit davor und danach hat Millionen Menschen und Familien tief geprägt. Ein persönlicher Rück- und Ausblick.

Von Mittwoch, 13.12.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 13.12.2023, 13:46 Uhr Lesedauer: 11 Minuten  |  

Meine Erinnerungen an die Kriege in Jugoslawien in den 1990er Jahren sind recht bruchstückhaft, dennoch nagen sie an mir. Zur Vorstellung: Ich bin eine Person, die sich wohl nicht leicht in nationale Kategorien einordnen lässt. Geboren in Berlin und hier praktisch mein ganzes Leben verbringend, kann ich keinen deutschen Stammbaum nachweisen. Meine Eltern sind um 1970 als Gastarbeiter aus Jugoslawen nach Deutschland gekommen und blieben ihrem Herkunftsland über alljährliche Reisen dorthin verbunden. Natürlich nahmen sie mich und meine vier Jahre ältere Schwester dabei mit, so dass auch für uns eine Bindung zum Land unserer Eltern entstand. Zudem besuchten wir jeden Freitagnachmittag die „Jugo-Schule“, das heißt den muttersprachlichen Zusatzunterricht, den die Bundesrepublik zusammen mit der jugoslawischen Botschaft initiiert hatte. Unser Schulbuch trug den serbokroatischen Titel „Meine Heimat Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien“. Tatsächlich waren wir ja jugoslawische Staatsbürger und auch die deutsche Umgebung betrachtete uns als Jugoslawen.

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Eine sehr jugoslawische Familie

Meiner Familie gehörten Angehörige fast aller jugoslawischen Nationalitäten an. Ein Auszug: Meine Mutter war Kroatin mit slowenischen Eltern, mein Vater wie seine Eltern Montenegriner. Die älteste Schwester meiner Mutter, Mariška, war mit einem Ungarn aus der serbischen Vojvodina verheiratet. Nedjeljko, der älteste Bruder meines Vaters, hingegen mit einer bosnischen Muslimin. Hinzu kamen unsere Freunde: Unsere Nachbarn in Spandau waren eine kroatische-slowenische Familie, der beste Freund meines Vaters war hingegen Mazedonier. Hinzu kamen Bekannte aus Serbien und Kroatien. Allerdings war mir dies alles vor Beginn des Krieges in Jugoslawien nicht bewusst: All die aufgezählten Personen waren für mich schlicht Jugoslawen.

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Die Vorboten des Krieges: Eine eingerollte Flagge und ein Nachrichtenbericht

Als ich und meine Schwester noch Kinder waren, fuhren wir mit unseren Eltern wie bereits gesagt jedes Jahr für einige Wochen nach Jugoslawien. Manchmal sogar zweimal. Am schönsten war es dabei in Rijeka bei Onkel Mića und Tante Lili sowie bei meinen Großeltern mütterlicherseits in der Baranja. 1990 bemerkte ich aber, dass die jugoslawische Flagge mit dem charakteristischen roten Stern am Grenzübergang zu Österreich eingerollt war. Meine Schwester meinte zu mir, dass diese Flagge nicht mehr gezeigt werden durfte. Merkwürdig, befand ich, fragte aber nicht weiter nach. Ein gutes Jahr später hörte ich in den Nachrichten von Gefechten zwischen Kroaten und Serben. Ich muss zugeben, dass ich diese beiden Begriffe damals zum ersten Mal hörte und ich konnte mit ihnen nicht wirklich etwas anfangen. Offenkundig rumorte es in der Heimat meiner Eltern, die auch irgendwie die meine war. Ich verfolgte die Sache damals aber nicht weiter.

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In Berlin: Der Krieg vor dem Fernseher

Umso größer war dann die Überraschung, als sich Ende Juni 1991 Slowenien und Kroatien von Jugoslawien abspalteten. Ich fürchtete nun, letzteres könne zerfallen und hoffte, die Serben mochten den jugoslawischen Staat retten. Dazu kam es aber nicht, denn auch Milošević verfolgte eine rein nationalistische Agenda. Mein Vater zog zu dieser Zeit über die Kroaten her, später auch über die bosnischen Muslime und scheint sich auch gegenüber meiner kroatischen Mutter nicht immer korrekt verhalten zu haben. Zu unseren kroatisch-slowenischen Nachbarn hielten wir aber auch weiter Kontakt, wobei in den Gesprächen Politik eine Rolle gespielt haben wird. Zumindest entnehme ich dies späteren Äußerungen unserer Nachbarn. Auffällig war, dass es Jugoslawen gab, die nun strikt eine nationalistische Linie fuhren. Meine Schwester sagte über diese, sie seien krasser drauf als die Leute in Jugoslawien selbst. Ich zumindest nahm es den Slowenen und Kroaten damals übel, sich von Jugoslawien abgespalten zu haben.

Meine Verwandten im Krieg

Was ich damals nicht wusste war, dass ein Teil meiner Verwandtschaft vom Krieg unmittelbar betroffen war. Meine Großeltern mütterlicherseits lebten in der Baranja im Kriegsgebiet. Ihr jüngster Sohn Jožika floh vor dem Krieg über Ungarn nach Deutschland. Sein Bruder Mirko wurde aus der kroatischen Armee ausgemustert, weil er an der Front den Anblick der Toten nicht aushielt. Das Dach seines Hauses wurde von der Jugoslawischen Volksarmee per Granatentreffer zerstört. Auf der anderen Seite der Front kämpfte Onkel Rajko im Gebiet von Dubrovnik, denn Montenegro war damals ein enger Verbündeter Serbiens. Sein Sohn Zoran geriet, den Wehrdienst ableistend, in kroatische Gefangenschaft, aus der er durch einen Gefangenaustausch wieder frei kam. Onkel Pujo war in Mostar stationiert. Hier besuchte ihn Onkel Nedjeljko, der am hiesigen Militärgymnasium Slawistik unterrichtete. Als der Krieg im Frühjahr 1992 auch Bosnien-Herzegowina erreichte, floh Nedjeljko nach Belgrad und erhielt dort eine Anstellung im serbischen Kultusministerium. Er rief jeden dritten Tag bei meiner Mutter an um sie zu fragen, wie es meinen slowenischen Großeltern ging. Seine muslimische Ehefrau blieb hingegen in Mostar, da sie sich um eine Tante von ihr kümmern musste. Hier erlebte sie dessen Belagerung durch die bosnischen Kroaten.

Reise ins Konfliktgebiet

Aufgrund des Krieges reiste meine Kernfamilie zunächst nicht mehr wie zuvor jedes Jahr auf den Balkan. Erst 1994 war es wieder so weit: In Ungarn trafen wir mit Mićas und Lilis Familie zusammen. Danach reisten wir weiter zu Onkel Nedjeljko nach Belgrad. Die Stadt kam mir recht bedrohlich vor, obwohl hier kein Krieg herrschte. Man spürte aber die Auswirkungen der gegen Serbien und Montenegro verhängten UN-Sanktionen: Es herrschte große Armut. Auch trugen die serbischen Polizisten blaue Camouflage, was nicht besonders beruhigend war. Erst auf dem Dorf bei Onkel Pujo in Montenegro fühlte ich mich wieder einigermaßen sicher. Wirklich bedrohlich war hingegen die Situation in der Baranja, die damals zur Serbischen Republik Krajina gehörte. Nachts klopften mit Pistolen bewaffnete serbische Jugendliche an die Fenster meiner Großeltern, um sie zu erschrecken. Zudem gab es Soldaten der Krajina-Armee im Dorf, die Kalaschnikows trugen. Meine Großeltern wurden von den lokalen Serben nach Möglichkeit gemieden. Nicht, dass sie von sich aus  keinen Kontakt mehr zu ihnen haben wollten. Aber sie fürchteten wohl, mit ihnen gesehen zu werden und dann Repressalien seitens der serbischen Nationalisten vor Ort erleiden zu müssen. Kurz: Es herrschte eine Atmosphäre des Terrors. Positiv war, dass belgische UN-Blauhelme meinem Großvater die Zeitung ins Haus brachten und sich nach seinem Wohl erkundigten. Sie wollten offenbar Präsenz zeigen, um meine Großeltern zu schützen. Lang hielten wir es in der Baranja aber nicht aus und als wir wieder Ungarn erreichten, war ich erleichtert.

Das Kriegsende

Obwohl ich mich in Ex-Jugoslawien nicht wohl gefühlt hatte, blieb ich dem Land dennoch verbunden. So verfolgte intensiv den Krieg vor dem Fernseher. Allmählich wandte sich das Blatt zuungunsten der Serben. Im August 1995 eroberte die kroatische Armee die Krajina zurück. Da für die deutschen Behörden der Krieg zumindest in Kroatien geendet hatte, wurde mein Onkel Jožika dorthin abgeschoben. Er muss wegen dieser Tatsache recht verzweifelt gewesen sein, fügte sich aber dann doch in sein Schicksal und fand an der Adriaküste eine Anstellung als Bäcker. Also in dem Beruf, in dem der schon vor dem Krieg tätig gewesen war. Nicht lange darauf bombardierte die NATO die Armee der bosnischen Serben, was deren Front im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas zusammenbrechen ließ. Damit sollte schließlich der Weg zum Frieden beschritten sein. Meine Schwester begrüßte das Abkommen von Dayton, das den Krieg in Ex-Jugoslawien beendete, euphorisch. Meine Mutter erfreute es, dass die Baranja zurück an Kroatien fiel: Sie war der Überzeugung, dass es der Region und damit auch meinen Großeltern wirtschaftlich besser gehen würde. Ich konnte dem Frieden von Dayton zunächst nicht viel abgewinnen, hatte er in meiner Sicht doch das Auseinanderfallen Jugoslawiens besiegelt.

Besuch in Ex-Jugoslawien nach Kriegsende in Kroatien und Bosnien und der Kosovo-Krieg

Man schrieb das Jahr 1997, als ich mit meinen Eltern wieder nach Ex-Jugoslawien fuhr. Wir besuchten Montenegro, Belgrad und die Baranja. Die bedrohliche Atmosphäre der Kriegsjahre war überall gewichen und Onkel Jožika war zu meinen Großeltern zurückgekehrt. Am Flughafen in Belgrad trafen wir auf Tante Mugda, die Mostar 1995 hatte verlassen können und nach Belgrad gelangt war. Sie und mein Vater umarmten sich in Trauer um Onkel Nedjeljko vereint, der ein Jahr zuvor nach einer Herzoperation verstorben war. Ein Psychoanalytiker, mit dem ich darüber sprach, meinte, damit hätte sich mein Vater zugleich vom serbischen Nationalismus losgesagt. Ich registrierte diese Aussage mit Erstaunen, aber auch mit einer gewissen Befriedigung.

Der nächste bewaffnete Konflikt in Ex-Jugoslawien ließ allerdings nicht lange auf sich warten: 1998 brachen im zu Serbien gehörigen Kosovo Kämpfe zwischen serbischer Polizei und kosovoalbanischer UCK aus, in die die NATO intervenierte. Sie warfen ihre Schatten auch nach Berlin: Ich stritt mit meinem Geschichtslehrer über die Frage, ob das NATO Bombardement Serbiens und Montenegros gerechtfertigt war oder nicht. Er meinte ja, ich war hingegen klar pro-serbisch. Immerhin befürchtete ich den Verlust des Kosovo. Auch Vesna, die Nachbarstochter, und meine Mutter nahmen Partei für die Kosovo-Albaner. Ich habe noch die Aussage meiner Mutter im Ohr, dass die Albaner im Kosovo die Unabhängigkeit von Serbien verdient hätten, da sie ihr ganzes Leben von den Serben schikaniert worden seien. Als der Kosovo-Krieg dann sein Ende gefunden hatte, reisten wir erneut nach Montenegro. An der ungarisch-serbischen Grenze registrierte ich, dass viele im Westen lebende Gastarbeiter ihren Verwandten in Ex-Jugoslawien humanitäre Güter mitbrachten.

Nach den Kriegen: Begegnungen mit Ex-Jugoslawen in Berlin

In Berlin begegnete ich nach dem Bosnien- und Kroatienkrieg mehreren Ex-Jugoslawen. Da waren zum einen drei Kroaten, an die ich mich erinnere: Krešimir trug ein Bild von Ante Pavelić, dem Anführer der kroatischen Nazis im Zweiten Weltkrieg, mit sich. Tomislav befand mich als guten Menschen, warnte aber davor, seine Sicht der Dinge auf den Krieg in Frage zu stellen. Hrvoje ging auf dasselbe Gymnasium wie ich und wollte mich kennenlernen, nachdem er von mir gehört hatte. Wir kamen gut miteinander aus. Dasselbe galt für Maki. Es handelte sich bei ihm um einen bosnischen Moslem, der bei Kriegsbeginn 1992 aus Bosnien-Herzegowina geflohen war und der bei Nebojša, einem bosnisch-serbischen Bekannten meiner Eltern, im Restaurant arbeitete. Sein Traum war es, in Kanada als Hubschrauberpilot zu arbeiten und absolvierte hierfür einen abendlichen Englischkurs. Einen Hubschrauber zu fliegen verstand er virtuos, war er doch Pilot in der Jugoslawischen Volksarmee gewesen. Auch eine andere Begegnung Jahre später blieb mir in Erinnerung: In der S-Bahn traf ich auf drei Kroaten aus Split. Wir unterhielten uns auch über Politik und sie fragten mich, für welche Seite ich mich entschieden hatte. Die serbische oder kroatische. Ich erklärte mich zum Anhänger Jugoslawiens und zwei von Ihnen stimmten mir zu, dass dies eine gute Sache sei.

Mein Blick heute

Für mich waren die Kriege in Jugoslawien wohl zu viel für mich. Da ich Eltern und Angehörige auf beiden Seiten der Front hatte, befand ich mich im Loyalitätskonflikt und versuchte ihn darüber zu lösen, dass ich eine Herkunft, in diesem Fall die mütterlich slowenisch-kroatische, verleugnete. Dies begann sich mit meiner Psychoanalyse, die ich 2011 antrat, zu ändern. Insgesamt habe ich mich seit dieser Zeit innerlich vom Nationalismus der Kriegsjahre entfremdet, wobei ich das Denken in ethnischen Kategorien nicht habe ganz ablegen können. So stellt sich mir die Frage, welcher ethnischen Gruppe ich eigentlich angehöre. Die Antwort, die ich gefunden habe, ist: Mehreren. Bezüglich des Balkans fühle ich mich als Jugoslawe. Aufgrund des deutschen Einschlages in meiner Biographie wird wohl die Bezeichnung Deutsch-Jugoslawe die treffendste sein. Recht jugoslawisch ist auch weiterhin meine Verwandtschaft: Onkel Rajko fühlt sich als Montenegriner, Pujo als Serbe und Mića hat wohl die kroatische Position zum ganzen Schlamassel verinnerlicht. Dieses Buntheit setzt sich auch in meiner Generation fort: Zorica, Rajkos Tochter, fühlt sich als Montenegrinerin. Mićas Sohn Goran hingegen als Kroate. Was ich gut finde, ist die „jugoslawische“ Kombination aus dem serbischen Tennisass Novak Djoković und seinem kroatischen Trainer Goran Ivanišević. Letzteren hatten ich und meine Schwester als Kinder frenetisch angefeuert.

Ex-Jugoslawien heute

Die Jugoslawien-Kriege haben großes Leid verursacht, und doch will nicht jeder aus ihnen lernen. Als Beispiel sei Branko, ein Bekannter meiner Eltern, erwähnt. Nach einem Intermezzo als serbischer Nationalist möchte er heute die Popen der Serbisch-Orthodoxen Kirche im Namen des montenegrinischen Nationalismus erschießen. Meine Mutter nennt ihn daher bescheuert! Wesentlich angenehmer ist mir eine Diskussion zwischen meinem Vater und Danilo in Erinnerung geblieben, die sich um die Frage kreiste, ob Montenegriner Serben seien oder ein eigenes Volk. Das Gespräch fand in freundschaftlicher Atmosphäre statt, blieb friedlich und eskalierte nicht. Marko hingegen, ein Montenegriner aus dem Kosovo, meinte einmal zu meinem Vater, dass die jugoslawischen Politiker nicht alleine am Krieg schuld gewesen seien, sondern auch die Bevölkerung eine Mitschuld trüge. Immerhin, so seine Begründung, könne man einen Menschen nicht zum Töten bringen, wenn er es klar ablehne. Das leuchtete mir ein und ich bin mit mir heute selbst nicht im Reinen, weil ich als Kind den Einsatz militärischer Gewalt für den Erhalt Jugoslawiens befürwortet habe.

Die Frage nach der Staatsangehörigkeit

Die anstehende Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechtes wird es mir erlauben, neben dem deutschen Pass, den ich seit 2005 habe, auch einen aus dem ehemaligen Jugoslawien anzunehmen. In Frage kommen der kroatische und der montenegrinische, wobei ich mich nicht wirklich zwischen ihnen entscheiden kann. Auch hier wünschte ich mir ein wiedervereintes Jugoslawien zurück. Dieses wird es wohl aber nicht geben, weil die Nationalismen „Unten“ noch zu stark sind und die Erinnerung an die Kriege weiter sehr lebendig ist. So leide ich weiter unter dem Zerfall Jugoslawiens und muss einen Weg finden, damit umzugehen. Meinung

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