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Benjamin Schraven © MiGAZIN

Weltsicht

Kann man Migration berechnen?

Prognosen zu Flucht und Migration – insbesondere im Zusammenhang mit der Klimakrise - haben sich stets einer gewissen Beliebtheit erfreut. Aber lässt sich Migration überhaupt vorhersagen?

Von Donnerstag, 18.01.2024, 12:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 17.01.2024, 15:33 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Viele Menschen gehen davon aus, dass sich Migrations- und Fluchtbewegungen mithilfe einer einfachen Arithmetik erklären lassen. Und diese gedachte Arithmetik funktioniert nach einem einfachen Reiz-Reaktions-Schema: Je mehr Armut, Klimawandel oder Konflikt, desto mehr Migration.

Mit der Vorstellung, Mobilität könne so berechnet werden wie etwa die mechanische Leistung eines Motors werde ich bei Vorträgen vor Nichtfachpublikum immer wieder konfrontiert. Auch aus der Politik wird immer der Wunsch geäußert, zukünftige Migrationsereignisse zu prognostizieren. Aber ist die Wissenschaft tatsächlich in der Lage, Migration zu berechnen oder gar vorherzusagen?

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Von atemberaubenden Zahlen und Milchmädchenrechnungen

An Prognosen gerade zu der Frage, wie viele Menschen zukünftig aufgrund des Klimawandels werden fliehen müssen, hat es in der Vergangenheit nicht gemangelt. Vor allem die mehr als 20 Jahre alte Prognose des mittlerweile verstorbenen Oxford-Professors und Biodiversitätsforschers Norman Myers, wonach es bis zum Jahr 2050 weltweit circa 200 Millionen „Klimaflüchtlinge“ geben werde, erwies sich als sehr langlebig. Diese Zahl taucht bis heute immer wieder in den Medien oder in politischen Dokumenten auf.

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Es gab noch weitere spektakuläre Prognosen wie etwa die des von einem australischen Tech-Milliardär gegründeten Institute for Economics and Peace, welches vor einigen Jahren die atemberaubende Zahl von 1 Milliarde Menschen präsentierte, die wohl bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts ihre Heimat werden verlassen müssen. Die dieser und einigen anderen Prognosen zugrundliegende Methodik hatten allerdings eher das Niveau einer Milchmädchenrechnung.

„Eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Phänomen Migration kommt nicht um die grundsätzliche Tatsache herum, dass Migration und Flucht sehr komplexe Prozesse sind.“

Eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Phänomen Migration kommt nicht um die grundsätzliche Tatsache herum, dass Migration und Flucht sehr komplexe Prozesse sind. In den allermeisten Fällen werden sie von unterschiedlichen – wirtschaftlichen, politischen, sozialen, ökologischen oder kulturellen – Faktoren beeinflusst. Das Zusammenspiel etwa von ökologischen mit anderen Faktoren wurde in frühen Modellen zur Vorhersage (klimawandelbezogener) Migration kaum berücksichtigt.

Neue Ansätze und ihre Schwächen

Mittlerweile gibt es neue Ansätze in der Wissenschaft, Migration – vor allem im Kontext des Klimawandels – zu „modellieren“, um Prognosen für bestimmte Länder oder Regionen zu erstellen. Ein prominentes Beispiel für so einen Ansatz bieten die beiden Groundswell-Berichte der Weltbank aus den Jahren 2018 und 2021. Für diese Berichte wurde ein Modell entwickelt, bei dem Bevölkerungsdaten, sozioökonomische und klimatische Daten für verschiedene Weltregionen und Länder zusammengebracht werden, um wahrscheinliche Wanderungsbewegungen innerhalb der Länder im Zusammenhang mit Klimaveränderungen zu modellieren.

Grundlage des Modells war die Analyse von historischen Klimaauswirkungen auf die Bevölkerungsverteilung, welche dann anhand der Daten auf zukünftige Jahrzehnte angewendet wurden, um verschiedene Szenarien zu entwickeln. Für das pessimistischste Klimawandelszenario kommen die Autorinnen und Autoren auf 216 Millionen Menschen, die im Jahr 2050 migrieren müssten. Diese Zahlen beziehen sich wohlgemerkt auf Migration innerhalb von Ländern und Regionen, nicht aber auf jene, die über die Grenzen der Weltregionen hinwegverläuft.

„Können derlei Modelle nun das weltweite Migrationsgeschehen vorhersagen? Eher nicht.“

Können derlei Modelle nun das weltweite Migrationsgeschehen vorhersagen? Das muss wohl mit einem „Eher nicht“ beantwortet werden. In einem jüngst veröffentlichten Artikel in der Fachzeitschrift Frontiers in Climate haben mehrere Autorinnen Modelle zur Prognose klimawandelbezogener Migration untersucht und mehrere Schwachstellen identifiziert:

Erstens werden die nicht-klimatischen Triebkräfte von Migration in den untersuchten Modellen nach wie vor nicht stark genug berücksichtigt. Konflikte und soziale Netzwerke – zwei besonders wichtige Faktoren für Flucht- und Migrationsentscheidungen – tauchen in einigen Modellen gar nicht erst auf. Dies hat aber auch damit zu tun, dass es hierfür zum Teil keine ausreichenden Daten gibt.

Eine zweite Einschränkung ist der vorherrschende Fokus auf (einzelne) langsam eintretende Klimaveränderungen wie der Anstieg des Meeresspiegels oder Niederschlagsveränderungen wohingegen plötzlich auftretende Ereignisse wie Wirbelstürme nicht berücksichtigt werden.

„Viele der Menschen, die am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, sind arm. Sie haben oftmals gar nicht die Mittel, um überhaupt migrieren zu können.“

Eine weitere Einschränkung ist die Vernachlässigung klimabedingter Immobilität. Viele der Menschen, die am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, sind arm. Sie haben oftmals gar nicht die Mittel, um überhaupt migrieren zu können. Sehr häufig rauben die Effekte der Klimakrise diesen Menschen diese Ressourcen und sie werden gezwungenermaßen immobil. Klimabedingte Immobilität ist eine mindestens ebenso schwerwiegende politische und humanitäre Herausforderung wie klimabedingte Mobilität.

Zu guter Letzt tun sich die Prognosemodelle sehr schwer damit, große „Unbekannte“ und „Black Swan“-Events, also plötzlich und unerwartet auftretende Ereignisse, wie etwaige Kipppunkte des Weltklimas, Kriege mit globaler Tragweite oder Pandemien und deren soziale, politische und wirtschaftliche Folgen in irgendeiner Form zu integrieren. Auch wenn sich der erwähnte Artikel und seine Analyse auf Prognosen zu klimawandelbezogener Migration beziehen, so sind die dargelegten Erkenntnisse auf andere bzw. allgemeinere Migrationsmodelle und -prognosen grundsätzlich übertragbar.

Kein Anspruch, die Zukunft vorherzusagen

„Was vielen Menschen im globalen Norden offenkundig besondere Sorge bereitet, ist die zukünftige Entwicklung von Migration und Flucht in Richtung Europa und Nordamerika.“

Was vielen Menschen im globalen Norden offenkundig besondere Sorge bereitet, ist die zukünftige Entwicklung von Migration und Flucht in Richtung Europa und Nordamerika. Das zeigt schließlich recht eindeutig am aktuellen Diskurs in Deutschland und anderen europäischen Ländern, der sich mehr und mehr gegen Geflüchtete richtet.

Die Beantwortung der Frage, wie sich die Migration zwischen Kontinenten oder Weltregionen zukünftig entwickelt, stellt die Möglichkeiten der Migrationsforschung erst recht auf eine harte Probe. Wir müssen uns aber auch vergegenwärtigen, was mit den Begrifflichkeiten Modell, Szenario und Prognose genau gemeint ist.

Ein Modell ist der Versuch, die Realität oder einen Teil dieser Realität, möglichst genau abzubilden – während ein Szenario eine mögliche zukünftige Realität abbildet (in Abhängigkeit von denkbaren Entwicklungspfaden wie zum Beispiel dem Ausmaß zukünftiger Klimaveränderungen). Eine Prognose ist eine Aussage, welche auf den Ergebnissen der Szenarien und Modellen beruht. Szenarien und Prognosen haben nicht den Anspruch die Zukunft genau vorhersagen zu können. Trotzdem sind sie aber alles andere als wertlos, denn sie bieten uns einen zusätzlichen Einblick, wie etwa Migration und Klimaveränderungen miteinander zusammenhängen können. Und von diesen Einblicken kann nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Politik profitieren. Meinung

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